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Ausgabe:

Januar/2016

Spalte:

46-48

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Sæbø, Magne [Ed.]

Titel/Untertitel:

Hebrew Bible/Old Testament. The History of Its Interpretation. III: From Modernism to Post-Modernism. Ed. in cooperation with P. Machinist and J. L. Ska. Part 2: The Twentieth Century – From Modernism to Post-Modernism.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. 777 S. Geb. EUR 150,00. ISBN 978-3-525-54022-0.

Rezensent:

Markus Witte

Der vorliegende Teilband, der nur aus pragmatischen Gründen von der Darstellung des 19. Jh.s getrennt ist, schließt die von Magne Sæbø herausgegebene fünfbändige Darstellung der Auslegungsgeschichte des Alten Testamentes 19 Jahre nach dem Erscheinen des ersten Teilbandes ab. Mit ihren 777 Seiten erreicht die Übersicht über Wege und Tendenzen der Auslegung des Alten Testaments im 20. Jh. fast den Umfang der Teile, die den »Anfängen bis zur Zeit um 1300« (Bd. I/1) und dem »Mittelalter« (Bd. I/2) gewidmet sind. Entsprechend der Anlage des gesamten Werkes handelt es sich auch bei dem hier vorzustellenden Teilband um eine Teamarbeit, an der insgesamt 25 verschiedene Autoren aus Europa, Israel, Japan, Südafrika und den USA mitgeschrieben haben, womit der Internationalisierung und Globalisierung der Forschung Rechnung getragen wird. Der Schwerpunkt des in drei Abschnitte gegliederten Werks liegt wie bei den anderen Bänden auf der eigentlichen Auslegung des Alten Testaments, d. h. die Wirkungsgeschichte und die frömmigkeitsgeschichtliche Bedeutung bleiben ausgespart.
Einleitend problematisiert der Herausgeber zutreffend die Möglichkeiten der forschungsgeschichtlichen Würdigung einer mehr oder weniger zeitgenössischen Forschung. Die Bestimmung einzelner Forschungspositionen und Modelle, die wirklich wegweisend waren, die Differenzierung zwischen bleibenden Erkenntnissen und vergehenden Moden, ist in der Tat erst mit einem zeitlichen Abstand möglich und setzt eine gewisse Distanz voraus. Als wesentliches Merkmal der Forschung am Alten Testament im 20. Jh. erscheint die große Pluralität und starke Ausdifferenzierung der exegetischen Methoden. Gleichwohl lassen sich als wesentliche Referenzpunkte für die Forschung des 20. Jh.s die Grundelemente der historischen Kritik (Textgeschichte, Literargeschichte, Formgeschichte) bestimmen. So prägt die alttestamentliche Forschung des 20. Jh.s die methodische Ausdifferenzierung und kontextuelle Mo­difizierung der Fragen erstens nach dem Text (verbunden mit einer neuen Würdigung der verschiedenen Formen des Masoretischen Textes und der antiken Versionen, die sich in großen Editions- und Übersetzungsprojekten niederschlagen), zweitens nach den literarischen Gestalten des Alten Testaments sowie drittens nach seinen soziokulturellen Prägungen, Orten und Trägergruppen. Stärker als vergangene Epochen der Auslegung ist das 20. Jh. von Fragen der Hermeneutik und der kritischen Selbstreflexion der Exegese ge­kennzeichnet.
Teil A (29–218) behandelt den grundsätzlichen Rahmen der Auslegung und gibt einen Überblick über die für die Erforschung des Alten Testaments relevante Diskussion zur philosophischen Hermeneutik, zur Linguistik und vergleichenden Semitistik, zur Soziologie und Institutionengeschichte, zur Literargeschichte, zur Form- und Traditionsgeschichte, zu zeitgenössischen Methoden (Literary Criticism, Strukturalismus/Poststrukturalismus, Ideologiekritik), zur Theologie und zum Kanon bzw. zu kanonsorientierten Zugängen. Die Einflüsse der Arbeiten Hermann Gunkels und Hugo Gressmanns, Albrecht Alts und Gerhard von Rads oder Martin Noths werden hierbei ebenso deutlich wie die Auswirkungen der Dialektischen Theologie auf die Darstellung der Theologie des Alten Testaments und der neueren Literaturwissenschaft und Se­miotik auf die Exegese.
Teil B (219–388) ist Räumen der Auslegung gewidmet und be­schreibt Schwerpunkte der Forschung in Nord-, Mittel- und Südamerika, in Afrika, in Australien und Neuseeland, in Asien (mit dem Schwerpunkt auf China, Japan und Südkorea) und in Europa (fokussiert auf Zentraleuropa, Großbritannien und Nordeuropa). Die Exegese in Osteuropa und Südeuropa wird nicht eigens thematisiert. Quer zur geographischen Anordnung der christlichen Auslegung werden Entwicklungen und Tendenzen in der jüdischen Forschung an der Hebräischen Bibel und (mittels der Gestalt von Harry Orlinsky) auch knapp an der Septuaginta dargestellt. Dieses Kapitel, das gerne etwas ausführlicher hätte sein dürfen, verdeutlicht schön, wie traditionelle Methoden der Talmud- und Mi­drasch­exegese wichtige Impulse auf die moderne Erforschung der Hebräischen Bibel und des Alten Testaments, zumal auf Fragen der Intertextualität, der innerbiblischen Schriftauslegung und der Re­daktionsgeschichte ausgeübt haben, und würdigt den Beitrag von Kommentaren und Studien aus der Feder jüdischer Gelehrter wie Jacob Milgrom, Moshe Weinfeld, Moshe Greenberg oder Michael Fishbane.
Der dritte und umfangreichste Teil C (389–703) behandelt wesentliche Felder der Auslegung. So werden hier die Arbeiten zur Geschichte Israels, zum Pentateuch, zur Prophetie, zu den Psalmen, zur Weisheitsliteratur, zum Recht und zur Ethik, zur Religionsgeschichte und zur Theologie sowie zu Übersetzungstheorien und modernen Bibelübersetzungen vorgestellt. Dabei erweisen sich vor allem die 1970er Jahre als eine Zeit der Krise der großen Modelle und der methodischen Aufbrüche. Im Bereich der Re-Konstruktion der Geschichte Israels betrifft dies vor allem die Fragen nach der Herkunft Israels, der sogenannten vorstaatlichen Zeit, den Anfängen des Königtums, der Bedeutung der persischen – und in der jüngsten Forschung – der hellenistischen Zeit. In der Pentateuchforschung er­folgt eine radikale Infragestellung der Quellenhypothese durch redaktionsgeschichtliche Modelle einerseits und holistische Zugänge andererseits. In der Prophetenforschung verschiebt sich der Blick von der vermeintlich historischen Pro­phetenfigur und der Herausarbeitung der »ursprünglichen« Prophetenworte auf das Prophetenbuch in seinen rekonstruierbaren Buchgestalten. Die großen sogenannten kontextuellen Theologien wie befreiungstheologische oder feministisch-theologische Auslegungen des Alten Testaments ha­ben gleichfalls ihren Ursprung zu Beginn des letzten Drittels des 20. Jh.s. Und schließlich werden seit den 1970er Jahren auch in der protestantischen Forschung die Apokryphen und Pseudepigraphen neu in ihrer Bedeutung für die Literaturgeschichte des Alten Testaments und für die Religions- und Theologiegeschichte des antiken Judentums entdeckt. Leider wird diese Forschungstendenz ebenso wie die Forschung an den seit 1947 entdeckten, seit Beginn der 1990er Jahre fast vollständig publizierten und übersetzten Texte aus Qumran im vorliegenden Band kaum dokumentiert.
Bildeten und bilden im Bereich der Geschichte Israels sowie der Literargeschichte des Pentateuchs und der historischen Bücher die Arbeiten von Martin Noth den ständigen Bezugspunkt für Neubestimmungen, so war und ist es noch immer die »Theologie« von Gerhard von Rad, bei der neuere Darstellungen der Theologie(n) des Alten Testaments oder der Theologie(n) im Alten Testament ihren Ausgang nehmen. Dass dabei Fragen nach der kanonischen Geltung des Alten Testaments, die eigentlich nach den ideologischen Kämpfen um das Alte Testament in den 1920/30er Jahren beantwortet schienen, in jüngster Zeit wieder auftauchen, gehört zu den Merkwürdigkeiten der Rezeptionsgeschichte.
Von den großen Synthesen, die die alttestamentliche Exegese unter dem Einfluss Wellhausens zu Beginn und unter dem Einfluss Noths und von Rads in der Mitte des 20. Jh.s kennzeichneten, ist die gegenwärtige Forschung weit entfernt. Die Vielfalt der an das Alte Testament herangetragenen Fragestellungen und die feinen Verästelungen der Methoden lassen auch fraglich erscheinen, ob solche Synthesen jemals wieder erreicht werden können oder gar sollten. Angesichts der Vielfalt der Redeweisen Gottes (Hebr 1,1), auf die S. im Nachwort des von ihm herausgegebenen opus magnum zu sprechen kommt, und angesichts der Tatsache, dass menschliches Verstehen und Deuten prinzipiell unabgeschlossen ist, liegt die Pluralität der Auslegungen des Alten Testaments in der Natur der Sache. Dabei sind die insgesamt über 4000 Seiten der »Hebrew Bible/Old Testament«, die durch umfangreiche Register erschlossen werden, ein sehr guter Wegweiser und Begleiter durch 2000 Jahre Auslegungsgeschichte.