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Ausgabe:

Dezember/2015

Spalte:

1360–1362

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Bultmann, Rudolf, u. Günther Bornkamm

Titel/Untertitel:

Briefwechsel 1926–1976. Hrsg. v. W. Zager.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. XXXIII, 527 S. m. Abb. Lw. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-151708-2.

Rezensent:

Konrad Hammann

Im Februar 1957 geht Rudolf Bultmann in einem Brief an Günther Bornkamm ausführlich auf dessen im Jahr zuvor erschienenes Jesus-Buch ein. Er findet die Darstellung seines Schülers unbeschadet einiger kritischer Rückfragen ganz ausgezeichnet und bemerkt bei dieser Gelegenheit, Bornkamm habe mit seinem Buch überzeugend gezeigt, dass das biblische Sprichwort »Der Jünger ist nicht über dem Meister« bzw. (nach der von Bultmann bevorzugten Version) »Der Schüler ist nicht über dem Lehrer« in der Wissenschaft nicht gelte (278). Trotz dieses Lobes blieb die Beziehung zwischen Bultmann und Bornkamm, so freundschaftlich sie sich im Laufe der Zeit auch gestaltete, doch bis zuletzt das, was sie von Anfang an war, das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler nämlich. Dies zeigt der von Werner Zager mustergültig edierte Briefwechsel zwischen beiden Gelehrten auf nahezu jeder Seite. Die ein halbes Jahrhundert umfassende Korrespondenz setzt ein mit Bornkamms Gesuch um Aufnahme in Bultmanns Seminar im Sommersemester 1926 und endet mit einer Postkarte Bornkamms an Bultmann aus dem März 1976.
In die Edition dieses Briefwechsels sind zusätzlich aufgenommen Briefe Helene Bultmanns an Bornkamm und dessen erste Frau, ein Brief von Bultmanns Patenkind Anna-Elisabeth Bornkamm und zwei Briefe Elisabeth Bornkamms an Bultmann, ein Brief Bultmanns an Elisabeth Bornkamm sowie mehrere Beilagen, ein Weihnachtsbrief Bornkamms aus dem Krieg, der Bericht Bultmanns über seine USA-Reise 1951 und seine Stellungnahme zu einer Darstellung seiner Theologie durch Bornkamm. Wie diese Dokumente tragen auch die im Anhang abgedruckten Stücke zum besseren Verständnis der Korrespondenz und der in ihr berührten Themen bei. Den theologischen und akademischen Werdegang Bornkamms dokumentieren eindrucksvoll sein Lebenslauf von 1928, sein brieflicher Austausch mit Hans von Soden 1936/37, ein Brief Heinrich Bornkamms an seinen jüngeren Bruder Günther aus dem Jahr 1939 sowie dessen Antrittsworte in der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 1957. Neben der Vorschlagsbegründung ebendieser Akademie zur Verleihung des Reuchlin-Preises an Bultmann 1957 enthält der Anhang noch Bornkamms Besprechung der Tübinger Denkschrift über die Theologie Bultmanns von 1952, seine Laudatio zum 85. Geburtstag des Lehrers sowie seinen großen Nachruf auf Bultmann aus den »New Testament Studies« von 1977.
Der Edition sind ferner zwei Brieffaksimiles sowie mehrere Fotografien der beiden Korrespondenzpartner und ihrer Familien beigegeben. Die auf den ersten Blick ungewöhnlich anmutende Wiedergabe gerade der beiden Familienfotos lässt sich ungezwungen damit erklären, dass die Berichte über persönliche und familiäre Angelegenheiten den Hauptanteil des brieflichen Austausches zwischen Lehrer und Schüler, zumal nach dem Tod von Bornkamms erster Ehefrau Anneliese 1936, bildeten. Indes sind Bultmanns Kopfschmerzen und altersbedingte Beschwerden, seine und Bornkamms Urlaubsreisen oder das Aufwachsen und die Lebenswege der Kinder beider offenkundig nicht von wissenschaftsgeschichtlicher Bedeutung, jedenfalls nicht für den durch diesen Briefwechsel repräsentierten Zusammenhang. Es stellt sich dann aber die Frage nach dem sonstigen Gehalt dieser Korrespondenz. Bezeichnenderweise berühren Lehrer und Schüler in ihrem Austausch kaum einmal wirklich theologische Grundsatzfragen. Gewiss werden hier und da unterschiedliche Auffassungen zu exegetischen Detailproblemen erkennbar. Aber die unbedingte Loyalität, die Bornkamm gegenüber dem theologischen Ansatz seines Lehrers und den mit ihm verbundenen Intentionen erwies, führte zu einem weitgehenden Einverständnis über die Aufgabe der wissenschaftlichen Theologie im Allgemeinen und der neutes­tamentlichen Exegese im Besonderen. Angesichts dieses Konsenses erübrigte sich anscheinend die nähere Erörterung, kontroverse Diskussion oder gar Problematisierung der von beiden Theologen geteilten Grundaxiome der Auslegung des Neuen Testaments. Selbst das für den Systematiker Bultmann wichtige Grenzgebiet zwischen Theologie und Philosophie betreten die Korrespondenzpartner nur selten, der junge Bornkamm etwa mit einem Bericht von der Diskussion über das Verhältnis von Theologie und Philosophie, zu der es 1926 bei einem offenen Abend bei Karl Heim in Tübingen kam, Bultmann gelegentlich mit der Distanzierung von einem ihm durch Bornkamm 1940 übermittelten Wort Martin Heideggers (vgl. 115.117) sowie später mit seinem Missvergnügen an Heideggers »Holzwegen« und der Bemerkung, Heidegger müsste »auch entmythologisiert werden« (210).
Gleichwohl bereichert dieser Briefwechsel nicht nur unsere Kenntnisse über die Geschichte der neutestamentlichen Wissenschaft im 20. Jh., er ist auch unter theologiegeschichtlichen Aspekten bedeutsam, und zwar in zweifacher Hinsicht. Denn zum einen zeigt er zur Genüge, dass und wie Bultmann und Bornkamm, jeder auf seine Weise, unter den restriktiven Bedingungen des Dritten Reiches durch die beharrliche, konzentrierte Interpretation der neutestamentlichen Texte dem totalitären Anspruch des NS-Staates die Wahrheit des Evangeliums entgegenzusetzen vermochten und ihre theologische Arbeit dezidiert als Dienst an der Bekennenden Kirche auffassten. Die negativen beruflichen Folgen, die dieses Engagement besonders für den damals noch nicht in einem festen akademischen Amt etablierten Bornkamm hatte, treten deutlich hervor.
Zum anderen gibt diese Korrespondenz zu erkennen, dass Bornkamm nach dem Zweiten Weltkrieg wie kaum ein anderer maßgeblich mit dazu beitrug, dass die »Schule« Bultmanns an den deutschen evangelisch-theologischen Fakultäten mittel- und langfristig an Einfluss gewann. Berufungsangelegenheiten werden mehrfach erörtert. Bornkamm erwies sich zudem wiederholt als kongenialer Interpret des Entmythologisierungsprogramms seines Lehrers, ergriff die Initiative zur Wiederaufnahme der Tagungen der »Alten Marburger« nach dem Zweiten Weltkrieg und sorgte durch seine eigene erfolgreiche Lehr- und Forschungstätigkeit in Heidelberg sowie als Herausgeber einer Kommentar- und einer Monographienreihe dafür, dass in seinem Einflussbereich die theologische Arbeit am Neuen Testament in den von Bultmann vorgezeichneten Bahnen fortgeführt werden konnte.
Dies alles und noch viel mehr kann man in dem Briefwechsel zweier großer Gelehrter nachlesen, die doch, nicht zuletzt in ihren jeweils charakteristischen Reaktionen auf ihre Publikationen und in deren Bewertung, einander zeitlebens Lehrer und Schüler blieben. Dem Herausgeber gebührt Dank und Anerkennung für die akkurate Edition dieser Korrespondenz, nicht zuletzt für die aufwändig recherchierten Erläuterungen zu den erwähnten Personen und Institutionen. Man mag allenfalls fragen, ob Zager hier nicht manchmal des Guten zu viel getan hat. Sollten sich die Fußnoten in einer Briefedition nicht von einem Personen- und Institutionenlexikon unterscheiden? Die Frage stellen heißt aber nicht, sie auch beantworten zu müssen. Am Ende steht das Lob für eine gelungene Edition.