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Ausgabe:

November/2015

Spalte:

1316–1318

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Kunter, Katharina, u. Annegreth Schilling[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Globalisierung der Kirchen. Der Ökumenische Rat der Kirchen und die Entdeckung der Dritten Welt in den 1960er und 1970er Jahren.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014. 379 S. m. Abb. u. Tab. = Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte. Reihe B: Darstellungen, 58. Geb. EUR 84,99. ISBN 978-3-525-55773-0.

Rezensent:

Reinhard Frieling

Der Band enthält die Ergebnisse eines Forschungsprojektes, welches von der Deutschen Forschungsgemeinschaft von 2008 bis 2011 gefördert wurde: »Auf dem Weg zum globalisierten Christentum: Die europäische Ökumene und die Entdeckung der ›Dritten Welt‹ zwischen 1966 und 1973«. Im Zentrum stand dabei damals und steht jetzt in der Veröffentlichung der Transformationsprozess des 1948 ge­gründeten Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK), der sich in den 60er und 70er Jahren von einer vorwiegend europäisch-nordatlantischen Dominanz zu einer global agierenden, interkonfes-sionellen und pluralen internationalen Organisation entwickelt hat.
Vorläufer des ÖRK waren in der ersten Hälfte des 20. Jh.s die Bewegungen für »Praktisches Christentum« (Life and Work) und für »Glauben und Kirchenverfassung« (Faith and Order) sowie indirekt der »Internationale Missionsrat«, der »Weltbund für Freundschaftsarbeit der Kirchen« und zahlreiche internationale und in-terkonfessionelle christliche Organisationen wie der Christliche Studentenweltbund, der Weltbund christlicher Vereine Junger Männer (YMCA/CVJM), diakonische und soziale Netzwerke usw. Die Christen in Asien, Afrika, Australien und Lateinamerika wurden damals zumeist von ihren »Mutterkirchen« in der sogenannten Ersten Welt mitgetragen. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s bekamen die »Jungen Kirchen« dieser Kontinente eine Eigenständigkeit und entwickelten auch in ihrem kulturellen und religiösen Kontext eigene »einheimische Theologien«.
Der ursprüngliche Begriff von »Ökumene« – nämlich als Partizip Passiv vom griechischen »oikein« (= wohnen) – meinte ja »die ganze bewohnte Erde«: in der Antike das römische Weltreich und später in der Christenheit »die ganze Kirche weltweit« betreffend.
In der römisch-katholischen Kirche ist bis heute ein »Ökumenisches Konzil« eine weltweite Synode dieser Kirche. In den anderen Kirchen wurde seit etwa dem 19. Jh. das Wort »ökumenisch« für interkonfessionelle und internationale Beziehungen der Christen und der Kirchen geläufig. Der »Ökumenische Rat der Kirchen« wurde 1948 als Gemeinschaft fast aller nicht-römisch-katholischen Kirchen gegründet. Die römisch-katholische Kirche gehört ihm bis heute nicht an, hat aber seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil ihre »Katholischen Prinzipien des Ökumenismus« (Ökumenismusdekret Nr. 2 ff.) so definiert, dass in einer Gemeinsamen Arbeitsgruppe des Vatikan und des ÖRK sowie durch zahlreiches Mit-wirken römisch-katholischer Delegierter bei Projekten des ÖRK eine gemeinsame globale ökumenische Verantwortung praktiziert wird. In die ÖRK-Kommission für »Glauben und Kirchenverfassung« entsendet der Vatikan eine Reihe offizieller Delegierter.
Eine Mitgliedschaft der römisch-katholischen Kirche im ÖRK wird bis heute vermieden, weil einerseits die dogmatisch definierte lehramtliche Autorität des Papstes und die Autorität von Verlautbarungen und Entscheidungen des multikonfessionellen ÖRK nicht Irritationen auslösen sollen, und weil andererseits die unterschiedlichen Größenverhältnisse der römisch-katholischen Kirche (etwa zwei Drittel der Christenheit) und der Kirchen des ÖRK die gewachsene Gemeinschaft und die Rolle der »kleinen« Kirchen nicht geschwächt werden sollen. Zwölf Jahre lang (1968–1980) wirkte der gemeinsame »Ausschuss für Gesellschaft, Entwicklung und Frieden« (SODEPAX als Kooperation zwischen dem ÖRK und der Päpstlichen Kommission Iustitia et Pax). Doch Unterschiede bei der Definition von angemessenen Entwicklungsstrategien (wirtschaftliches Wachstum oder befreiungstheologisch ein Engagement gegen Unterdrückung und Abhängigkeiten) führten schließlich zur Auflösung von SODEPAX. Die Globalisierung der Kirchen hat also nicht zu einer ökumenischen Institutionalisierung der römisch-katholischen, östlich-orthodoxen und evangelisch-protes­tantischen Kirchen geführt, wohl aber zu einer neuartigen globalen Orientierung des ÖRK und seiner Mitgliedskirchen.
Der Sammelband von zwölf Studien beschreibt die Globalisierung in drei Schritten: 1. »Von der Nachkriegsökumene zur Weltgemeinschaft«, 2. »Menschenrechte, Sozialismus und Befreiung. Das Ringen um Einheit zwischen Ost und West, Nord und Süd«, 3. »Die Entwicklung eines globalen Bewusstseins. Transnationale kirchliche Wechselwirkungen«.
Die beiden in Bochum lehrenden Herausgeberinnen realisieren dabei ein »glokales« ökumenisches Bewusstsein, indem sie die Interdependenz und Verflechtung globaler und lokaler Diskurse aufzeigen. Die großen Themen des ÖRK wie das Antirassismus-programm und die Anti-Apartheitsbewegung, die Entwicklungs-strategien und die Befreiungstheologien, die feministischen Theologien und die einheimischen Theologien sind sowohl lokale Aneignungen globaler Themen als auch eine global-ökumenische An­eignung lokaler Themen.
Der ÖRK hat hier angesichts manchen Sprachenwirrwarrs un­wahrscheinliche Hilfen und Klärungen erbracht. Aufschlussreich sind in diesem Sammelband manche sprachliche Klärungen, weil Begriffe wie »Erste Welt« und »Dritte Welt« oder »Theologie der Revolution« und »Theologie der Befreiung« im jeweiligen historischen, kulturellen und konfessionellen Kontext ganz unterschiedlich begriffen und behandelt wurden.
Die Genfer Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft 1966 rückte den Begriff »Revolution« in den Mittelpunkt: Ihr Titel lautete im Deutschen: »Christen leben in der technischen und gesellschaftlichen Revolution unserer Zeit«. Der ursprüngliche Titel notierte auf Englisch im Plural »revolutions« und zeigte an, dass es einerseits um ein neues ökumenisches Sozialdenken bei vielfältigen gesellschaft-lichen und politischen Umbrüchen geht und dass andererseits der revolutionäre Wandel als Beweis für Gottes Wirken in der menschlichen Geschichte gilt. So wurde damals im Singular eine »Theologie der Revolution« entwickelt, welche für die einen eine legitime theologische Zielsetzung ist, um die Einheit und das Heil der Menschheit zu beschreiben (so beispielsweise einige Studien der ÖRK-Kommission für Glauben und Kirchenverfassung), während für andere der Revolutionsbegriff eine Positionsbeschreibung für die Stellung von Christen und Kirchen im Klassenkampf von Arm und Reich oder von Unterdrückten und Unterdrückern bedeutete.
Die Vollversammlung des ÖRK in Uppsala 1968 griff diese Strömungen mit dem Begriff »Erneuerung der Welt« auf, und in Lateinamerika (wo damals Militärjuntas als »Revolutionsregierungen« regierten) bekam die »Theologie der Befreiung« u. a. durch die vom ÖRK unterstützte Kommission »Kirche und Gesellschaft in Lateinamerika (ISAL)« effektive Hilfe. Einige Beiträge des Bandes machen das am Wirken markanter Persönlichkeiten deutlich: zum Beispiel die Generalsekretäre Willem A. Visser’t Hooft und Philipp Potter, oder die Theologen Joseph Hromatka (mit der Prager Christlichen Friedenskonferenz als sozialistischer Alternative zur westlich ge­prägten Ökumene) und Josè Miguez Bonino als methodistischer Befreiungstheologe aus Argentinien, oder die im Genfer Stab prägenden Persönlichkeiten wie M. M. Thomas, Rubem Alves, Lukas Vischer, Paul Albrecht, Paolo Freire, Leopoldo Niilus, O. F. Nolde, Julio de Santa Ana und Emilio Castro.
Es gab freilich auch in den Kirchen des ÖRK einige kritische Gegenstimmen, die eine zu starke politische »Horizontalisierung« statt einer gewohnten »Evangelisierung« befürchteten. Diese in der »Lausanner Bewegung« seit 1974 sich artikulierenden konservativen »Evangelikalen« und auch der Großteil der Pfingstkirchen und der wachsenden unabhängigen Kirchen (vor allem in Afrika und Asien) werden auch erwähnt, aber nicht durch eigene Beiträge vorgestellt, wahrscheinlich weil auch ihr zahlenmäßiges Gewicht sich erst in späteren Jahren manifes­tierte.
Besonders hervorzuheben ist in dem Buch die Einführung der beiden Herausgeberinnen (21–74). Hier ist es gelungen, die verschiedenen theologischen und soziopolitischen Bewegungen in­nerhalb der Kirchen und im ÖRK plausibel unter der Schlagzeile »Der Christ fürchtet den Umbruch nicht« zu interpretieren und aufeinander zu beziehen: zum Beispiel der Übergang von einer anfänglich in den 1950er Jahren im ÖRK geläufigen Zielsetzung einer »Verantwortlichen Gesellschaft« zu mehr konkreteren Mo­dellen, die angesichts des »Rapid Sozial Change-Programms« des ÖRK in zahlreichen Erneuerungsbewegungen sich manifestierten.
Im Rahmen der Förderung des Projekts durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft war es naheliegend, sich auf kompetente Autorinnen und Autoren aus dem nordatlantischen Raum zu konzentrieren. Wünschenswert ist es, künftig zusätzlich noch or­tho-doxe und römisch-katholische Stimmen sowie Voten aus den charismatischen und unabhängigen Kirchen einzubeziehen. Die Jahrzehnte nach der in diesem Buch vorgelegten Bilanz der 1960er und 1970er Jahre haben – auch im Kontext mit dem Dialog mit anderen Religionen – hierfür bedeutsame Weichenstellungen ge­bracht, de­ren Ertrag für ein weiteres Forschungsprojekt noch aussteht.