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Ausgabe:

November/2015

Spalte:

1313–1314

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

hrsg. v. J. Track, O. Schuegraf u. U. Hahn im Auftrag der Kirchenleitung der VELKD.

Titel/Untertitel:

Säkularisierung. Eine ökumenische Herausforderung für die Kirchen. Eine Studie des Ökumenischen Studienausschusses der VELKD und des DNK/LWB

Verlag:

Hannover: Amt der VELKD 2010. 122 S. Kart. EUR 8,00. ISBN 978-3-9812446-7-0.

Rezensent:

Johannes Zachhuber

In den 1990er Jahren begann sich unter Sozialwissenschaftlern die Ansicht durchzusetzen, dass die für das 20. Jh. so wirksame Säkularisierungsthese, nach der gesellschaftliche Modernisierung zwangsläufig zu einem Rückgang der Religion auf der gesellschaftlichen wie der privaten Ebene führt, der komplexen religiösen Wirklichkeit am Ende des Millenniums nicht gerecht wird. 15 Jahre später müssen Beobachter mit Erstaunen die Rückkehr des Säkularisierungsbegriffs in die öffentliche und politische Debatte re-gistrieren. Positiv besetzt wird der Begriff von den Vertretern des New Atheism gebraucht, die mit Nachdruck fordern, dass der gestiegene Anteil nichtreligiöser Individuen an der Bevölkerung westlicher Länder politische und gesellschaftliche Konsequenzen haben müsse. Dem korrespondiert die kritische Sicht auf westliche Gesellschaften, besonders pointiert vorgetragen von Papst Benedikt XVI., die ebenfalls mit dem Stichwort »säkular« operiert. Angesichts dieser Zangenbewegung, mit der das Stichwort aufs Neue in die religionspolitische Debatte eingreift, besteht heute an diesem Punkt in der Tat eine »ökumenische Herausforderung für die Kirchen«. Die vom Ökumenischen Studienausschuss der VELKD erarbeitete Handreichung kommt also zum richtigen Zeitpunkt!
In den ersten beiden Kapiteln präsentiert sie zunächst wichtige Impulse zur neueren Säkularisierungsdebatte, zum einen aus dem nichttheologisch-akademischen Bereich, zum anderen aus der kirchlichen Diskussion, wobei versucht wird, dem ökumenischen Rahmen gerecht zu werden. Das umfangreichste dritte Kapitel präsentiert Historisches zur Säkularisierung, und in einem vierten Kapitel werden theologische Einsichten und Perspektiven vorgestellt. Griffige Thesen schließen die Schrift ab.
Warum wird der Geschichte der Säkularisierung so viel Raum gegeben? Die Antwort muss wohl lauten, dass die Autoren letzt-lich der Auffassung sind, Säkularisierung sei primär ein geistesgeschichtliches Phänomen, das eng mit der Geschichte des Christentums, besonders mit dem re­formatorischen Christentum zusammenhängt. Das war be­kanntlich die These Friedrich Gogartens, dessen Deutung insofern wenig überraschend als »klassisch« be­zeichnet wird (30). Ob diese Lesart im Licht neuerer Forschung noch vertretbar ist (interessant dazu z. B. die Arbeiten Hartmut Lehmanns), sei hier dahingestellt. Sofern sie jedoch von den Verfassern der Studie de facto zugrunde gelegt wird, wäre es gut gewesen, hätte die Darstellung neuerer Diskussionen zum Problem der Säkularisierung in den ersten beiden Kapiteln die Berechtigung der im Weiteren ge­wählten Zu­gangsweise herausgearbeitet.
Die Entscheidung der Verfasser zugunsten des Gogartenschen Ansatzes wird verständlich, blickt man auf die von der Studie intendierte kirchliche Antwort auf die »Säkularisierung«. Letztlich be­wegt sich diese wiederum in der von Gogarten diagnostizierten Spannung von »Säkularisierung« als einer zu bejahenden Weltlichkeit der Welt und einem antireligiösen »Säkularismus«, der abzulehnen sei. Dafür spricht ja auch tatsächlich einiges, und man wird ebenso wenig bestreiten können, dass – sieht man einmal vom Wort »säkular« ab, das zum Teil aufgrund historischer Entwicklungen kontrovers bleibt – es an diesem Punkt in der Tat erhebliches ökumenisches Potential gibt. Der Teufel jedoch steckt, wie immer, im Detail, und diesem weichen die Autoren leider weitgehend aus.
Wie genau müssen Unterscheidungen heute vorgenommen wer­den, gerade angesichts der Tatsache, dass die »Säkularisierung« im schlichten Sinn von Rückgang der Kirchlichkeit seit Gogarten dramatisch zugenommen hat? Sind die Aushöhlung der Sonntagsruhe oder die Aufführung einer Operette am Karfreitag Ausdruck der »Säkularisierung« oder eines »Säkularismus« (um Gogartens Terminologie zu bemühen)? Wie verhält es sich mit der Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen (103) oder von Stammzellforschung? All diese ethischen und rechtlichen Neujustierungen der vergangenen Jahre sind letztlich Aspekte der Säkularisierung, auch wenn diese in der Regel nicht ideologisch-kämpferisch, sondern pragmatisch daherkommt, sofern den Kirchen bedeutet wird, sie seien nur gesellschaftliche Interessengruppen unter anderen.
Die Studie gibt wichtige Denkanstöße, bleibt jedoch insgesamt zu sehr bei Konflikten der Vergangenheit (Trennung von Kirche und Staat, Religionsfreiheit) stehen und verpasst so die Gelegenheit, in aktuell drängenden Fragen Orientierung zu geben.