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Ausgabe:

November/2015

Spalte:

1283–1286

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Webster, John

Titel/Untertitel:

The Domain of the Word. Scripture and Theo-logical Reason.

Verlag:

London u. a.: Bloomsbury T & T Clark Interna-tion­al 2012. 240 S. Geb. £ 70,00. ISBN 978-0-567-21294-8.

Rezensent:

Günter Thomas

Der Band The Domain of the Word ist für den deutschsprachigen theologischen Kontext eine Zumutung, ja eine produktive Unverschämtheit. Kaum jemand wagt noch, ein solches Buch mit einer solchen theologischen These zu schreiben. In einer Zeit, in der die Gebildeten des Feuilletons einem sich radikalisierenden Islam zur Selbsttherapie und Selbstbesänftigung die historisch-kritische Erforschung des Koran empfehlen, wirkt dieses Buch wie aus der Zeit gefallen. Und doch ist dieser Band in einem pointierten Sinne »notwendig«. The Domain of the Word adressiert auf pointierte Weise eine die deutsche Theologie und Kirche prägende Kluft zwi-schen einer sich immer weiter ausdifferenzierenden historisch-kritischen Bibelforschung und einem kirchliche Praxis prägenden »Hosentaschenpragmatismus«, mit dem biblische Texte in kirch-liche Praxis eingestreut werden. John Webster bietet auch ein zu­mindest ponderables Angebot zur Überwindung der Ratlosigkeit der Kirchen, angesichts des Reformationsjubiläums theologisch überzeugend darzulegen, worin heute die theologische (nicht his­torische!) Pointe der sola scriptura Formel bestehen könnte.
Nach Stationen in Durham, Wycliffe College (University of Toronto), Oxford und Aberdeen lehrt W. seit 2013 am St. Mary’s College der University of St. Andrews. Er ist Übersetzer und Editor von Eberhard Jüngels Schriften und profunder Kenner der Theologie Barths. Nach einem kleinen Band aus dem Jahr 2003 zu Holy Scripture. A Dogmatik Sketch hat er mit The Domain of the Word deutlich vertiefend thematisch nachgelegt. Der Band ist allerdings eine »britische« Monographie, d. h. er besteht aus acht bisher veröffentlichten und zwei unveröffentlichten Essays. Der Band ist in sich zweigeteilt. Der erste Teil zu »Scripture« enthält den bisher unveröffentlichten Einleitungsaufsatz »The Domain of the Word« sowie die Beiträge zu »Resurrection and Scripture«, »Illumination«, »Witness to the Word: Karl Barth’s lectures on the Gospel of John« und »Verbum mirificum: T. F. Torrance on Scripture and hermeneutics«. Der zweite Teil bietet fünf weitere Essays mit den Titeln »Biblical reasoning«, »Principles of systematic theology«, »Theology and the peace of the church«, »Regina artium: Theology and the humanities« und zuletzt »Curiosity«.
W.s einfache Grundfrage ist eine, die innerhalb der historisch-kritisch ausgerichteten Exegese kaum noch jemand zu stellen wagt, von deren Beantwortung allerdings das Leben der Kirche und– so seine These – auch die wissenschaftliche Theologie tunlichst nicht lassen sollte: »Was ist die Rolle der Bibel in dem Ge­samtprozess von Schöpfung, Christusgeschehen, Erlösung, Rechtfertigung etc., kurz, im gesamten Drama göttlichen Handelns?« Diese genuin theologische Frage sollte nicht vorschnell als »Barth-ianismus« oder »naiver Realismus« abgetan werden. Diese Frage lässt sich auch nicht durch historische Verweise auf irgendwie »ge­genwartsprägende Texte« oder allgemein kulturwissenschaftliche Beschreibungen als »identitätsbildende Texte« abweisen oder stillstellen. Zu einfach macht es sich auch eine Theologie, die diese Frage als dogmengeschichtlich und religionsphilosophisch überholt, eben als nicht mehr neuzeitkompatibel abtun möchte.
In der Beantwortung dieser Grundfrage ist W.s Projekt eine theologische und insbesondere dogmatische, unzweideutig offenbarungstheologische Theorie der Schrift. Der Eröffnungsessay entwickelt hierzu die Umrisse, die folgenden Essays und insbesondere »Resurrection and Scripture« und »Illumination« präzisieren den Entwurf. Die Bibel als Schrift ist ein Element des Raumes des Wortes Gottes. Dieser Raum wird geschaffen durch den auferstandenen und lebendigen Christus und nicht zuletzt das Wirken des Menschen erleuchtenden Heiligen Geistes. Durch den Dienst der Propheten und Apostel wird die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen von dem lebendigen Christus instruiert.
Mit der Leitmetapher des Raumes des Wortes führt W. zwei Bewegungen zusammen: die Selbstkommunikation Gottes und das heilsame, transformative und auch das Denken formende Erkennen Gottes durch Christinnen und Christen. Der Raum des Wortes ist letztlich der Raum der Anrede durch den auferstandenen Chris­tus und der Kommunikation durch den Heiligen Geist. Denn der Geist aktiviert und führt die Antwort derer, die in dem Raum lokalisiert und von ihm umschlossen sind. Der historische und auferstandene Christus wird in diesem Raum zum sprachlichen Zeugnis über Gottes schöpferisches, versöhnendes und erlösendes Handeln. Die Schrift ist darum für W. elementarer Bestandteil des providentiellen Handelns Gottes und der göttlichen »economy of grace and revelation«. Sie spiegelt hierin die Unermesslichkeit Gottes.
Aus diesem Ansatz folgt für W., dass das verbreitete Verhältnis zwischen einer zunächst grundlegenden Hermeneutik und einer darauf aufbauenden Theologie der Schrift umgekehrt wird: »Bibliol­ogy is prior to hermeneutics. Theology talks of what the biblical text is and what the text does before talking of who we are and what we want to do with the text, and it talks about what the text is and does by talking of God as Scripture’s author and illuminator« (4). »We need to figure out what the text is in order to figure out what to do with it; and we determine what Scripture is by understanding its role in God’s self-communication to creatures.« (116)
Diese Umkehrung hat enorme Implikationen für den Vollzug von Theologie. So sind die kanonischen Texte vor allem diskursive Medien, die der auferstandene Christus ausgewählt hat, für sich selbst sprechen zu lassen. In der Folge sind auch die Exegese und die Theologie letztlich spirituelle Praktiken. Wie auch immer die Theologie institutionell verankert ist, sie selbst ereignet sich auch in dem »domain of the word«: »Scripture and reason are elements in the economy of God’s communication with creatures, aspects of the cognitive fellowship between creatures and their loving creator« (117). So partizipiert auch das menschliche Denken an der Geschichte von Fall, Versöhnung und Erlösung. Für W. ist der ent scheidende Differenzpunkt zur dominierenden historisch-kritischen Exegese deren auf Spinoza zurückzuführende Entscheidung, dass die Schrift Ex ipsius historia interpretiert werden müsse.
»The natural properties of the text and of the skills of interpreters are elements in an immanent economy of communication. The biblical text is a set of human signs born along on, and in turn shaping, social, religious and literary processes; the enumeration of its natural properties comes increasingly to be not only a necessary but a sufficient description of the Bible and its reception.« (5)
Ein solcher Zugriff übersieht, so W., dass die Texte und ihre vorausgehende Geschichte, auch bei einer klaren Zurückweisung einer wie auch immer substantiell oder gar inkarnatorisch gedachten Einheit, solche sind, zu denen Gott in einem Verhältnis der »providence, sanctification, and inspiration« (14) steht. Zentral für W.s Ansatz ist, dass in dem Raum der Schrift nicht nur die Schrift ein Moment der Selbstkommunikation Gottes ist, sondern durch das Wirken des Geistes so etwas wie eine tiefe Verwandlung des menschlichen und darin dann auch des theologischen Denkens stattfindet.
Ob die im zehnten Essay entfaltete dualisierende Gegenüberstellung einer fragwürdigen »vice of curiosity« und einer lobenswerten, weil sachangemessenen »virtue of studiousness« besonders glücklich und differenziert genug ist, mag man mit Recht fragen. Unstrittig ist allerdings die Anfrage, was eine durch das Evangelium ins Werk gesetzte Erneuerung des Denkens für den Vollzug von universitärer Theologie bedeutet. Speziell auf die Bibel bezogen ist für W. ein nicht erneuertes Denken ausschließlich auf die »natural properties« der Zeichen bezogen, während für »theological studi-ousness« die »historical, textual and conceptual phenomena […] are to be understood as signs, mediating divine instruction; to read the signs is to be drawn by the signs through the signs, to the divine depth which they indicate. For all is inquisitiveness, curiosity in theology fails to perceive this indicative and ministerial function of the phenomena to which it addresses itself« (198). W.s Selbstanspruch an Theologie ist kein geringer. Denn christliche Theologie »is a work of human reason within this movement of communication in which Son and Spirit open to creatures a share in the divine knowledge« (137).
In gewisser Weise offeriert The Domain of the Word eine Reformulierung der Lehre von der dreifachen Gestalt des Wortes Gottes Karl Barths. Und doch: So sehr sich W. der Theologie Karl Barths verpflichtet weiß, sein Entwurf schöpft aus Quellen, die ihn – zumindest im Urteil des Rezensenten – gerade da sich von Barth entfernen lassen, wo Barth ein durch und durch moderner Theologe ist. Es dürften der anglikanische Kontext und die ausgedehnte Lektüre von Thomas von Aquin sein, die ihn den die Freiheit Gottes und die Offenheit der Interpretation sichernden Aktualismus der Barthschen Theologie übergehen lässt und seinen Entwurf frei sein lässt von echter theologischer Fraglichkeit. W. wendet sich explizit gegen die Vorstellung, dass sich in der Bewegung des Wortes in die Zeichen und in den Raum der Inkarnation so etwas wie eine Kenose ereignet.
»The Word elects to enter the realm of signs, and thereby the realm of their interpretation. But this becoming is not a kenotic movement; the Word does not evacuate himself into the history of interpretation, abandoning himself into the hands of his interpreters and descending into indeterminacy. For […] faithful interpretation is ascetic; it involves a disappointment of interpretation, a being formed, receiving rather than bestowing meaning.« (24)
Was sich hier abzeichnet, ist ein sehr weitgehendes Abblenden der Risiken und Kontingenzen des Geschichtlichen und nicht zuletzt der unausweichlichen Perspektivität und historischen Modellgebundenheit theologischer Erkenntnis – und dies auf beiden Seiten: in der Vielgestalt des innerkanonischen Gesprächs wie auch der Polykontextualität der theologischen Erkenntnis. Dass in dem vielgestaltigen innerkanonischen Gespräch auch eine theologische Pointe stecken könnte, kommt nicht in den Blick. Es drängt sich der Eindruck auf, dass der überaus robuste theologische Realismus W.s sich nie wirklich den bedrängenden Anfragen Ludwig Feuerbachs und Friedrich Nietzsches ausgesetzt hat und allzu leichtfertig die Anschlüsse an prägnant vormoderne Autoren und Texte sucht. So mag man sich fragen, ob die gegenwärtige Verortung der Theologie an der Universität und im Konzert der Humanwissenschaften im engen Gespräch mit Texten Bonaventuras sinnvoll vorgenommen werden kann. Ist dies einfach theologische Chuzpe oder ein Anklang eines theologischen Snobismus und einer fragwürdigen Überheblichkeit? Nicht zuletzt W.s offene Polemik gegen »interdisciplinarity« (191, Anm. 38) lässt Letzteres vermuten. Wie schon erwähnt, ist W.s Entwurf expressis verbis gegen eine klassische historisch-kritische Exegese und als theologisch-dogmatische Al­ternative gebaut. Dass dabei allerdings auch nicht in Ansätzen deutlich wird, worin ein prägnant theologischer Gewinn einer historischen Forschung – auch unter den Vorzeichen einer Verabschiedung der epistemischen Vorstellungen des 19. Jh.s – liegen könnte, dürfte eines der bedenklichsten Defizite des Bandes sein. Auf alle Betonung einer ursprünglichen und versöhnten Geschöpflichkeit in < /span>The Domain of the Word fällt an dieser Stelle doch ein Schatten einer Schöpfungsverleugnung und theologischen Verliebtheit in »the uncreated depth of God« (143) – nicht frei von einem antimodernistischen Impuls, wie ihn zumindest der späte Barth niemals geteilt hätte.
Auch als Rückfragen oder gar Widerspruch hervorrufendes Buch ist The Domain of the Word ein herausforderndes, ja ein notwendiges Buch. W. stellt provokant die Frage, was das wissenschaftliche Studium der Bibel eigentlich zur Theologie macht. Sein An­satz ist eine bedenkenswerte Antwort auf die schwer abweisbare Frage, wie die Theologie den Text der Bibel begreifen soll, wenn Gott nicht nur das Objekt religiöser Imagination und diese dann Objekt historischer und literaturwissenschaftlicher Analyse ist, sondern wenn Gott in der Tat eine lebendige Entität ist und die Bibel ein Handlungsinstrument und Kommunikationsmedium dieser Entität. The Domain of the Word zeigt, wie produktiv die Beunruhigung sein kann, die aus dieser Veränderung des Blickwinkels erwächst.