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Ausgabe:

November/2015

Spalte:

1281–1283

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Lincoln, Ulrich

Titel/Untertitel:

Die Theologie und das Hören.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. XI, 238 S. = Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, 65. Lw. EUR 94,00. ISBN 978-3-16-153242-9.

Rezensent:

Doris Hiller

Das 2014 in der Reihe »Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie« erschienene Buch widmet sich einer scheinbaren kommunikativen Banalität: Wo es Sprechende gibt, muss es auch Hörende geben. In theologischer Emphase: Wenn Gott spricht, muss es ein hörendes Gegenüber in seiner Schöpfung geben. Die von Ulrich Lincoln ausgewiesene Grundkonstellation biblischer Verkündigung »Gott spricht und Menschen hören« kennt auch die wechselseitige Hörfähigkeit und -bereitschaft. Insofern nach Röm 10,17 dann auch der Glaube aus dem Hören kommt, ist es – den weiteren biblischen Hör-Referenzen entsprechend – keine Banalität, sondern ein vom Vf. zu Recht bemerktes Desiderat: Dem Hören in der Theologie ist Gehör zu schenken. Dies bedarf zunächst einer Annäherung an das, was Hören überhaupt ist. Dem entspricht das erste Kapitel unter phänomenologischen, philosophischen und theologischen Gesichtspunkten.
In seinen überblicksartigen Analysen beschreibt der Vf. den re­zeptiven Charakter des Hörens, skizziert die erkenntnisleitende Dimension (Herder), das Wechselverhältnis von gesprochener und gehörter Sprache (Humboldt) und betont im Anschluss an Heidegger vor allem den im Hören zum Verstehen hin geöffneten Wahrnehmungsraum, der die existentiale Zugehörigkeit begründet und die Gefahr des Überhörens in der unbestimmten Öffentlichkeit des Man kennt. Bezüge zu Derrida, der Hören als semiotisches Ereignis bestimmt und ins Verhältnis zur Stimme setzt, und zu Benjamin, der wiederum an die Mitteilungsstruktur der Sprache anknüpft, aber auch die Musikalität hervorhebt, werden aufgezeigt. Das phi losophische Fazit kritisiert die erkenntnistheoretische Engführung auf Sehen und Wissen und etabliert mit den genannten sprachphilosophischen, ästhetischen und existenzphilosophischen Zugängen den Erkenntnisgewinn, der im Vernehmen (Vernunft), in der responsiven Leiblichkeit und in der Medialität liegt.
Die theologischen Annäherungen führen in eine biblisch be­gründete Schule des Hörens. Die Erwählung Israels ereignet sich im Aufruf zum Hören (Dtn 6,4), dem der Gehorsam als Tun des gehörten Wortes entspricht. Gottes Offenbarung korrespondiert das menschliche Erzählen und Erinnern, dem ebenso eine Hörbereitschaft eignet wie dem Zeugnis. In den biblischen Zugängen konkretisiert sich die Paradoxie, die darin besteht, dass in dem auf Dauer gestellten verschrifteten Wort Gottes das vergängliche und augenblickshafte Hören zum Medium der Überlieferung wird.
Ausgehend von Apg 2 geht der Vf. theologiegeschichtlich der Spur des Hörens nach, die sich immer wieder in der Konzentration auf das Wort verliert. Aufgerufen wird die reformatorische Bindung des Geistes an das Wort und die orthodoxe Beschränkung auf die Verbalinspiration. Mit dem christologischen Sprechakt der promissio werden aber, insbesondere bei Luther selbst, Hören und Glauben zu nahezu identischen Formen der Aufmerksamkeit auf Gottes zusprechendes Wort. Eine schöpfungstheologisch begründete und in hermeneutischer Anthropologie angedeutete Unmittelbarkeit gegenüber dem Wort Gottes (H. Weder) wird vom Vf. kritisiert. Vielmehr ist Hören eine eminent mediale Praxis des Glaubens, wobei es insbesondere die Sprache der Musik und der Stille in ihrer je eigenen spirituellen Dimension zu bedenken gilt.
Das zweite Kapitel verfolgt theologische Interpretationen des Hörens. Kritisch in den Blick genommen wird K. Rahners enggeführte Anthropologie, die vom Hören auf Gottes Wort als ein dem Menschen Wesentliches ausgeht. Ausführlicher, weil für eine Theologie des Hörens zielführender, bearbeitet der Vf. die hermeneutischen Bezüge. In der auf Verstehen abzielenden existentialen Theologie Bultmanns vollzieht sich im Hören das Ereignis der göttlichen Anrede. Hören als Antwort wird zum Relationsbegriff und somit zum exklusiven Medium der Gotteskommunikation. Der von P. Ricœur eingebrachte Begriff des Zeugnisses schafft hingegen die theologisch notwendige Verbindung von Schrift und Wort, weil es nicht aus dem hermeneutischen Zirkel entlässt, sondern diesen insofern initiiert als es Zeugnisse nur als gehörte gibt, die Interpretation in Gang setzen. Hören ist – so die theologische Spur, die der Vf. selbst verfolgen will – kreative Eröffnung von Interpretation (162). Es geht um eine neue Aufmerksamkeit auf die Gottesrede. Dies führt noch einmal zu Karl Barth, dessen Bezug zum Hören als Ereignis in performativ-medialer Weise ausgewiesen wird. Auch wenn der Vf. hier die theologischen Verbindungslinien von Zeugnis und Performanz nur andeutet, überzeugt die theologische Aufwertung des Hörens in der Gleichstellung mit anderen Wahrnehmungsvollzügen.
Das letzte Kapitel skizziert eine Phänomenologie der Aufmerksamkeit, die sich vor allem mit Kierkegaards theologischer Ästhetik beschäftigt, was angesichts früherer Arbeiten des Vf.s nicht verwundert. Erreicht wird damit eine aus der theologischen Reflexion führende Konkretion auf ein christliches Hören im Sinne eines responsiven Erinnerns auf Zukunft. Der Leser wird in eine wache Aufmerksamkeit entlassen und die Theologin angeregt, der im Hören eröffneten Teilhabe an Gottes Wort weiter nachzudenken.