Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2015

Spalte:

1115-1117

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Sandvoß, Hans-Rainer

Titel/Untertitel:

»Es wird gebeten, die Gottesdienste zu überwachen …«. Religionsgemeinschaften in Berlin zwischen Anpassung, Selbstbehauptung und Widerstand von 1933 bis 1945.

Verlag:

Berlin: Lukas Verlag 2014. 564 S. m. 159 Abb. Geb. EUR 29,80. ISBN 978-3-86732-184-6.

Rezensent:

Patrick Holschuh

Hans-Rainer Sandvoß, der langjährige stellvertretende Leiter der Gedenkstätte für deutschen Widerstand, ist demjenigen, der sich mit der Widerstandsforschung in Berlin beschäftigt, kein Unbekannter. Er verfasste einen Großteil der stadtbezirklich untergliederten Bände »Widerstand in Berlin 1933–1945« und zuletzt »Die ›andere‹ Reichshauptstadt. Widerstand aus der Arbeiterbewegung in Berlin von 1933–1945«. Das vorliegende Buch versteht sich »in der (zeitlichen) Nachfolge« (11) zu Friedrich Zipfels lokalgeschichtlicher Darstellung »Kirchenkampf in Deutschland 1933–1945« von 1965 und hat es sich zum Ziel gesetzt, »einen Gesamtüberblick über das gegen den Nationalsozialismus in Berlin wirkende oppositionelle Potential innerhalb der vier Religionsgemeinschaften (evangelische Kirche, Bistum Berlin der katholischen Kirche, Zeugen Jehova und Gesellschaft der Freunde/Quäker) zu geben«. Dementsprechend werden nicht nur die Führungsfiguren der Religionsgemeinschaften untersucht, sondern wird auch die Basis mit Pfarrern und aktiven Laien mitsamt Jugendlichen ausführlich in den Blick genommen. Die Auswahl der Quellen trägt der Absicht Rechnung, den Gegenstand aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. Für die Sicht der Verfolger wertet der Vf. Dokumente des Berliner Polizeipräsidiums, der Gestapo, des Sicherheitsdienstes, von NSDAP-Parteistellen und der Justiz aus. Mit den Originaldokumenten der NS-Gegner, den Verfolgtenakten aus der zweiten Hälfte der 40er Jahre und vor allem mit Berichten von rund 100 Zeitzeugen lässt er die dem Nationalsozialismus Widerstrebenden selbst zu Wort kommen. Die zum Teil erstmalige Auswertung von Akten macht deutlich, dass es sich bei diesem Werk um mehr als die Zusammenfassung, wohl aber auch um eine Bilanzierung der vorhergehenden Reihe für ganz Berlin handelt.
Mit seinen Ergebnissen nimmt er eine Mittelposition im Forschungskontext seit 1945 ein. Zwar könne nicht von einem zwangsläufig aus dem christlichen Glauben heraus erwachsenen Massenwiderstand gesprochen werden, wie es vor allem in den ersten Jahrzehnten nach Kriegsende gängige Meinung war, allerdings handele es sich auch nicht nur um das Wirken weniger Einzelner, sondern allein in Berlin sei die Rede »mindestens von sehr vielen Hunderten« (523), deren Vernetzung der Vf. im Rahmen des humanitären Widerstandes sogar überkonfessionell hervorhebt. Dass dies aber erst das Resultat eines längeren Lernweges war, führen besonders die Zeitzeugenberichte anschaulich vor Augen.
Die gemeinsame Darstellung der vier genannten Religionsgemeinschaften lässt die unterschiedlichen Ausgangslagen und deren Engagement erkennen. Die katholische Kirche trat in Berlin nicht zuletzt durch Bischof von Preysing eindeutiger gegen den Nationalsozialismus auf als in anderen Diözesen Deutschlands. Die Zeugen Jehovas stachen vor allem durch ihre radikale Kriegsdienstverweigerung und große Standhaftigkeit trotz radikaler Verfolgung hervor, allerdings blieb ihr Einsatz weitgehend auf die eigene Gruppe beschränkt. Die Quäker hingegen, die in Berlin nur eine sehr kleine Gruppe bildeten, gingen von Anfang an über die reine Selbstbehauptung hinaus und ließen allen Opfern des NS-Regimes Hilfe angedeihen, was sie von den anderen Religionsgemeinschaften unterscheidet.
Den Großteil des Werkes nimmt die Darstellung der Berliner Bekennenden Kirche ein, da die überwiegende Mehrheit der Berliner Bevölkerung evangelisch war und die BK zudem so zersplittert war, dass eine detaillierte Betrachtung in der Tat sinnvoll ist. Die bis heute kontrovers diskutierte Frage, inwiefern die Bekennende Kirche zum Widerstand zu rechnen ist, steht naturgemäß auch bei dem Vf. im Zentrum seiner Ausführungen. Die Schilderungen der Entstehung und der Organisation der Bekennenden Kirche auf den unterschiedlichen Ebenen machen bereits deutlich, dass die Bekennende Kirche unter den Argusaugen der Staatspolizei und des Sicherheitsdienstes stand. Sodann werden ausführlich das Verhältnis und die Reibungspunkte zwischen Bekennender Kirche und Staat geschildert, um der Frage nachzugehen, welche Aktivitäten als Widerstand gewertet werden können. Die Fürbittlisten der Bekennenden Kirche, die von führenden Vertretern in der Nachkriegszeit als politischer Widerstand gewertet wurden, lässt der Vf. als solche nicht gelten, wobei deutlich wird, dass der Vf. einen – durchaus sinnvollen – engeren Begriff des politischen Widerstands hat, nämlich die Ablehnung des gesamten NS-Systems, die auf dessen Sturz zielte. Seinen Befund untermauert er mit Justizakten: So wurden die staatspolizeilichen Vorwürfe, dass die Fürbittpraxis eine politische Gefährdung darstelle, in der Regel in den Gerichtsurteilen nicht bestätigt. Eindrücklich führen aber nicht zuletzt die Zeitzeugenberichte vor Augen, dass die Bekennende Kirche einen »stufenweisen Lernprozess« (308) durchlebte, der von »Teilbindung über die Entfremdung und das Entsetzen, schließlich in die grundsätzliche Gegnerschaft« führte. Den Weg in den humanitären oder politischen Widerstand ging davon aber nur eine Minderheit. Anhand der zahlreichen Zeitzeugenberichte geht er der Hilfe für Verfolgte nach, die zeigen, dass die Basis der Bekennenden Kirche hier der entscheidende Ort war: Es waren Einzelne – unter ihnen viele Frauen –, aber auch ganze Helferkreise von in der Bekennenden Kirche Beheimateten, die sich auf diesem Feld unter der Gefahr ihres eigenen Lebens engagierten, so dass entgegen nivellierender Forschungsmeinungen von einer »qualifizierten Minderheit« (312) gesprochen werden kann. Obgleich sich die Bekennende Kirche selbst nicht so weit vorwagte, regte ihr Öffentlichmachen der staatlichen Gewaltmaßnahmen gegen Innerkirchliches zum kritischen Denken an und stellte somit gerade für Jugendliche einen geis­tigen Rahmen, der Rückhalt gab vor der Vereinnahmung durch die NS-Ideologie. Besonders hervorzuheben ist, dass der Vf. den Bedrohungskontext und die Rechtsunsicherheit, in denen damals ge­handelt wurde, sehr eindrücklich anhand einzelner Biographien vor Augen führt. Denn selbst wenn die Justiz mehr Verständnis für die Bekennende Kirche zeigte als die Gestapo, erwies sich deren Arm »nicht nur als der längere, sondern auch als der gefährlichere« (154).
Die regionalgeschichtlichen Untersuchungen des Vf.s bestätigen den gegenwärtigen Forschungsstand, dass zwar nicht für die gesamte Bekennende Kirche beansprucht werden kann, eine Widerstandsbewegung gegen den Nationalsozialismus gewesen zu sein, wohl aber für eine Minderheit innerhalb der Bekennenden Kirche, die »zu einer grundsätzlichen Ablehnung des Nationalsozialismus in Wort und Tat« (520) fand. Allerdings entsteht durch die Fokussierung auf die Bekennende Kirche der Eindruck, dass allein aus ihren Reihen Widerstand zum Regime erwuchs, was nachgewiesenermaßen nicht der Fall war. Erinnert sei bspw. an Eugen Gerstenmaier und an humanitären Widerstand, der auch bei Angehörigen der Deutschen Christen zu finden ist. Anzumerken ist ferner, dass bei den ausgewerteten Originaldokumenten Predigten der Geistlichen nicht hinzugezogen wurden. Auch wenn führende Vertreter der Bekennenden Kirche in gemeinsamen Stellungnahmen »nur einige wenige Male« (169) grundsätzliche Positionen des Nationalsozialismus hinterfragten, könnten deren Predigten das Bild ergänzen.
Obgleich das Werk nicht primär für den Forschungskontext geschrieben wurde und daher nicht alle einschlägige Literatur verarbeitet, stellt es gerade durch die ausführlich wiedergegebenen Zeitzeugenberichte und die erstmalige Auswertung unterschiedlicher Archivquellen für Untersuchungen gerade zur Bekennenden Kirche und zum Widerstand aus christlichen Motiven einen wichtigen Beitrag dar, dessen Lektüre sich kurzweilig gestaltet. Durch das Personenregister ist das Buch als Nachschlagewerk geeignet und ihm ist eine weite Verbreitung zu wünschen, denn »[g]anz so eindimensional, innerkirchlich begrenzt und gesamtgesellschaftlich banal wie heute oft gedacht, war der sog. Kirchenkampf dann wohl doch nicht« (523).