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Ausgabe:

Oktober/2015

Spalte:

1112–1113

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Burkard, Dominik

Titel/Untertitel:

Sebastian Merkle (1862–1945). Leben und Werk des Würzburger Kirchenhistorikers im Urteil seiner Zeitgenossen.

Verlag:

Würzburg: Kommissionsverlag Ferdinand Schöningh 2014. 356 S. m. Abb. = Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg, 67. Geb. EUR 36,00. ISBN 978-3-87717-073-1.

Rezensent:

Wolf-Friedrich Schäufele

Sebastian Merkle gehört zu den bedeutenden Vertretern einer mo­dernen, sich von dogmatischen Gesichtspunkten zunehmend emanzipierenden katholischen Kirchengeschichtsschreibung in der ersten Hälfte des 20. Jh.s. Der aus Ellwangen gebürtige Priester der Diözese Rottenburg hatte von 1898 bis 1934 den Lehrstuhl für Kirchengeschichte an der Universität Würzburg inne; im Alter von 72 Jahren emeritiert, lehrte er auch danach noch einige Semester. Merkles Arbeitsschwerpunkt lag in der Frühen Neuzeit. Bis heute bekannt und geschätzt ist er als Editor der Diarien des Trienter Konzils. Er hat sich aber auch um ein differenziertes Bild der katholischen Aufklärung bemüht und 1903 im Beleidigungsprozess gegen den katholischen Lutherkritiker Adolf von Berlichingen als Sachverständiger eine abgewogene Beurteilung Luthers vorgelegt. Aus seiner Abneigung gegen die Jesuiten machte er kein Hehl. Merkle war eine imposante Persönlichkeit und wusste durch sein persönliches Charisma Menschen für sich einzunehmen, war aber auch nicht frei von Eitelkeit. Mit seiner geistigen Unabhängigkeit polarisierte er. Nachdem er sich 1912 gegen eine reine Seminarausbildung und für eine universitäre Ausbildung der katholischen Priester ausgesprochen hatte, sah er sich im folgenden Jahr zu einem Widerruf genötigt, um einer Verurteilung als »Modernist« zu entgehen.
Eine ausführliche Biographie Merkles fehlt bis heute. Immer noch wertvoll ist der umfangreiche Band mit gesammelten Schriften Merkles und einer ausführlichen Vita, einer vollständigen Bibliographie sowie weiteren Beigaben, den Theobald Freudenberger 1965 zum 20. Todestag seines Lehrers und Würzburger Amtsvorgängers herausgegeben hat. Ausdrücklich als – um zwei Jahre verspäteter – Beitrag zum 150. Geburtstag Merkles gedacht (11) ist der hier anzuzeigende Quellenband von Dominik Burkard, der seit 2006 den Würzburger Lehrstuhl Merkles innehat. Es handelt sich hierbei, wie der Untertitel andeutet, im Wesentlichen um eine Sammlung von Äußerungen von Zeitgenossen. Neben Wiederabdrucken bietet der Band eine echte Trouvaille: ein Dossier über Merkle aus dem Nachlass seines zeitweiligen Würzburger Kollegen und späteren Rottenburger Generalvikars August Hagen (1889–1963), das dieser vielleicht schon 1932, vor allem aber in den Jahren 1945 bis 1950 zur Vorbereitung eines Nachrufs oder eines ausführlichen Lebensbildes angelegt, dann aber aus unbekannten Gründen doch nicht verwertet hatte. Bemerkenswert ist dieses Material dadurch, dass sich neben positiven und anerkennenden Urteilen darin immer wieder auch scharfe persönliche und fachliche Kritik an Merkle findet, die möglicherweise auch durch die persönlichen Animositäten, die zwischen den Fakultätskollegen herrschten, be­dingt waren. B. druckt Hagens Dossier zusammen mit einer quellenkritischen Einleitung und einem sehr sorgfältigen, ausführlichen Anmerkungsapparat vollumfänglich ab (14–159).
Sehr viel konventioneller fallen die im Anschluss daran wiedergegebenen Laudationes zum 70. Geburtstag Merkles sowie zu seiner Emeritierung und zum 75. und 80. Geburtstag sowie die verschiedenen Nachrufe aus (161–266). Die 24 Texte, die teilweise an abgelegenen Orten erschienen sind, bieten viel Bekanntes und Re-dundantes, sind aber teilweise auch durch die Person der Verfasser von Interesse. Von besonderem Wert sind die wichtigen Nachrufe von Andreas Bigelmair aus dem Historischen Jahrbuch und von Hubert Jedin aus der Tübinger Theologischen Quartalsschrift.
Spannend zu lesen sind die ausgewählten Rezensionen zu acht monographischen Publikationen Merkles, die das Spektrum zeitgenössischer Reaktionen in den verschiedenen Richtungen ausleuchten (296–346); zugrunde liegt der Auswahl eine systematische Bestandsaufnahme möglichst aller erschienenen Besprechungen.
Verdienstvoll ist schließlich auch die unter dem lapidaren Zwischentitel »Merkle im Bild« abgedruckte Sammlung von 19 meist weniger oder gar nicht bekannten Photographien und zwei Ölgemälden aus den Jahren 1882 bis 1940 (267–290), die die eindrucksvolle Physiognomie des Gelehrten mit seinem schon von den Zeitgenossen gerühmten »Jupiterhaupt« lebendig werden lassen.
Der gesamte Band ist sorgfältig gearbeitet und durch ein Personenregister erschlossen. Dem Spezialkenner und speziell Interessierten kann er zur Fundgrube werden; man erfährt hier neue De­tails wie z. B. den Namen von Merkles Hund (»Mars«), oder dass die Zeitgenossen meinten, der Würzburger Professor verspeise täglich einen Jesuiten zum Frühstück. Trotzdem hinterlässt der Band den Eindruck des Halbfertigen – als habe der Historiker seine Aufgabe nicht oder zu früh beendet. Die Menge der vorzüglich erschlossenen Quellen verlangt nach Synthese und Deutung. Eine große Biographie Merkles aus der berufenen Feder von Dominik Burkard wäre ein würdiges und naheliegendes neues Projekt.