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Ausgabe:

September/2015

Spalte:

997–999

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Rupp, Horst F. [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Lebensweg, religiöse Erziehung und Bildung. Religionspädagogik als Autobiographie. Bd. 5. Hrsg. unter Mitarbeit v. S. Schwarz.

Verlag:

Würzburg: Königshausen & Neumann 2013. 389 S. m. 18 Abb. = Forum zur Pädagogik der Religion. Neue Folge, 5. Geb. EUR 49,80. ISBN 978-3-8260-5226-2.

Rezensent:

Günter R. Schmidt

Dieser 5. Band der Reihe »Lebensweg. Religiöse Erziehung und Bildung« enthält neben einer längeren Einleitung von Horst Rupp und Susanne Schwarz zum Thema »Erinnerung« 18 autobiographische Skizzen von Religionspädagogen der Geburtsjahrgänge bis 1949. Zu Wort kommen A. Biesinger, G. Büttner, B. Dressler, E. Gossmann, H. Halbfas, H.-G. Heimbrock, J. Heumann, S. Leimgruber, H. Noormann, K. Petzold, W. H. Ritter, H. F. Rupp, M. Scharer, C.-T. Scheilke; M. und U. Tworuschka, A. Wuckelt und H. A. Zwergel.
Es erleichtert dem Leser das Verständnis religionspädagogischer Texte, wenn er Gelegenheit bekommt, auch etwas über die Selbstwahrnehmung der Verfasser zu erfahren. Denn anders als Naturwissenschaftler sagen Theologen und Pädagogen in ihren Arbeiten mindestens implizit immer auch etwas über die eigene Person. Ihre Ansätze sind in hohem Maße durch nicht-theoretische Faktoren bestimmt. Insofern wünscht sich der Leser Auskünfte über ihre Erfahrungen als Erzogene und als Erzieher, über ihre Eltern und ihr Herkunftsmilieu, über schulische und akademische Lehrer, über ihr eigenes berufliches Wirken und über ihr Verständnis en­gerer und weiterer Lebensbereiche, insbesondere darüber, wie sie selbst die Bedeutung außertheoretischer und theoretischer Faktoren für ihre Theoriebildung einschätzen. Solche Auskünfte werden dem Leser in dem Band mehr oder weniger freimütig gegeben. Weithin selbst erschließen muss er sich allerdings das theologische Grundverständnis des eigenen Glaubens und die Zielvorstellung von religiöser Erziehung, die das Theoretisieren der Verfasser leiten. Hier wären jeweils eine persönliche Kurzformel des Glaubens mit Bezug auf die Vorgaben der kirchlichen Lehre sowie Gesamtzielformulierungen für die christliche Erziehung in Familie, Ge­meinde und Schule hilfreich.
Die Herausgeber verstehen den jeweiligen Beitrag als »Erinnerung« des Verfassers an das Werden seiner Religionspädagogik und schicken den Beiträgen eine Besinnung auf die allgemeine Bedeutung von Erinnerung voraus. Sie unterscheiden »unterschiedliche Ebenen« von Erinnerung: »individuell-private«, »die gesellschaft-liche« markanter historischer Ereignisse, die »vielleicht sogar rituell-symbolisch aufgeladen« begangen werden, und »die religiöse«. »In wohl keinem anderen Bereich menschlicher Existenz spielt Erinnerung eine derart wichtige Rolle wie in demjenigen der Re-ligion. Religion ließe sich gleichsam als ›geronnene Erinnerung‹ definieren, die es aber immer wieder für Gegenwart und Zukunft zu ›verflüssigen‹ gilt.« Sie skizzieren kurz die Bedeutung der Erinnerung in Buddhismus, Judentum, Christentum und Islam. »Erinnerungsarbeit heißt Interpretation.« Eine wichtige religionspäda-gogische Aufgabe sei es, an die Shoah zu erinnern und »nach einer subjektorientierten Auseinandersetzung« mit ihr zu suchen. »Formal vereinfacht kann Erinnern als Abrufvorgang von Informationen aus dem Gedächtnis beschrieben werden.« (35) Es sei als »handlungsorientierende Größe, als ethische Kraft zu verstehen«. Das »Selbst-Verständnis« und das »Selbstwertgefühl« bilde sich »im sozialen Kontext« der Kinder heraus, in welchem auch Erinnerungen gepflegt werden. Dem Christentum eigne eine spezifische »Erinnerungskultur«, deren »zentraler Anlass« das pneumatisch vergegenwärtigte »Osterereignis« sei (39). »Erinnerung und Ge­dächtnis gehören zu den genuinen Merkmalen der religionspäda-gogischen Verbunddisziplin, die man als Grundinvolviertheit be­schreiben kann.« (40) Erziehung orientiere sich an »Vorstellungen des guten und/oder richtigen Lebens unter Rückgriff auf erworbene Lebenskonzepte«. Es gelte, »den prospektiven Aspekt von Erinnerung hervorzuheben und/oder gemeinsam zu entdecken« (43). »Schule im Allgemeinen und der Religionsunterricht im Besonderen sind Orte, an denen die Tradierung und Kommunikation von kulturellen, kollektiven und autobiographischen Ge­dächtnissen multimedial und disziplinübergreifend wirksam und explizit auf die Zukunft der Lernenden hin angelegt ist.«
Die Herausgeber sehen die Erinnerungen der Beitragenden in weiteren erinnerungstheoretischen Zusammenhängen. Es wird aber wenig deutlich, wie die unterrichtliche Thematisierung von Erinnerung mit dem autobiographischen und dem kulturell-kollektiven Gedächtnis zusammenhängen. Auch könnte man wünschen, dass die Herausgeber zur Erläuterung allgemeinerer Aussagen auf Einzelbeiträge Bezug nähmen. Die vorliegende Rezension kann nicht auf sämtliche Texte eingehen, sondern nur einige Tendenzen aufzeigen:
Viele Beitragende heben prägende Erfahrungen in ihrer Herkunftsfamilie, ihrer Kirchengemeinde und mit Lehrpersonen im Schul- und Hochschulbereich hervor, die sie rückblickend überwiegend als positiv, teilweise aber auch als ambivalent bis negativ beurteilen. Etliche waren schon in ihrer Schulzeit leitend mit in der gemeindlichen Jugendarbeit tätig und sehen diese Erfahrungen als wichtig für ihr späteres Studieren und Theoretisieren an (Petzold). Einige beschreiben, wie sie sich im Laufe ihres Studiums kritisch von der kirchlichen Dogmatik gelöst haben (Halbfas).
An etlichen Stellen geht die theologische Perspektive in die religionstheoretische über (Heimbrock, Noormann). Man denkt eher über Religion allgemein als über das Christentum nach. Der Theologe steht als denkender Christ in der Christenheit und ihrer Lehrtradition. Von diesem Standort aus kommen auch nicht-christliche Religionen und Weltanschauungen in den Blick und werden nach christlichen Kriterien bewertet. Der Religionstheoretiker schwebt über allen Religionen einschließlich des Christentums und bewertet vergleichend nach allgemeinen, philosophischen, meist ethischen, Kriterien. Damit löst sich die Religionspädagogik aus der Theologie und wird zu einem Spezialfach der allgemeinen Pädagogik. Der Religionsunterricht wird zu einem kulturkundlich-ethischen Fach. Die Frage, wie sich dies zum geltenden Verfassungsrecht verhalte, wird kaum gestellt. Aus der selbstverständlichen Toleranz gegenüber Nicht-Christen entsteht eine Tendenz zur christlichen Anerkennung der Gleichwertigkeit ihrer Ideologien. Christliche Erziehung und Religionsunterricht müssten aber gerade zur Unterscheidung zwischen Personen mit ihrer Menschenwürde und den Ideen- und Symbolwelten befähigen, in denen sie sozialisiert werden und leben. Zielvorstellungen sind eher allgemein pädagogischer Art. Das Christentum zerfließt zum bloßen Anlass für die Erörterung ethisch-politischer Fragen. Kaum wird deutlich als Aufgabe genannt, junge Christen zum Verstehen des Christentums anzuleiten und dadurch zu seiner Annahme zu motivieren. Zu stark passt sich das religionspädagogische Theoretisieren an die gesellschaftliche Situation (Pluralität, Diversität) und an die Interessen an, die man bei den Schülern vermutet statt zur ernsthaften Beschäftigung mit christlichen Inhalten zu motivieren. Dann kann die Enttheologisierung des Religionsunterrichts bis zu Affekten gegen seine Konfessionalität gehen (Heumann). Man nimmt offensichtlich an, die Frage nach der Legitimation des Religionsunterrichts habe bei Schülern den gleichen Stellenwert wie bei einer kirchenkritischen Öffentlichkeit und ihre Lernmotivation hänge ausschließlich von Legitimationserwägungen ab. Nur in einem Beitrag wird hervorgehoben, dass Religionslehrer einer klaren systematisch-pädagogischen Perspektive be­dürften, und als Aufgabe »Pflege der christlichen Semantik« (Büttner) genannt.
Die Beiträge lesen sich spannend, wecken beim Leser aber auch höchst kritische Fragen zum Zustand von Theologie und Kirche.