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Ausgabe:

September/2015

Spalte:

985–987

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Richter, Anne-Maren, u. Christian Schwarke [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Technik und Lebenswirklichkeit. Philosophische und theologische Deutungen der Technik im Zeitalter der Moderne.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2014. 216 S. Kart. EUR 29,99. ISBN 978-3-17-024138-1.

Rezensent:

Ewald Stübinger

Die Mehrzahl der Beiträge geht auf eine Tagung im Jahr 2012 im Rahmen des Sonderforschungsprojekts »Transzendenz und Ge­meinsinn« der TU Dresden zurück. Es ist die Intention des Projekts, nach Transzendenzverweisen in der Technikwahrnehmung zu suchen. Unter Transzendenz wird dabei die Konstruktion von »Unverfügbarkeiten« (9) verstanden. Diese sind nicht notwendigerweise religiös konnotiert, sondern können sich auch in Natur, Ge­schichte, Ästhetik u. Ä. manifestieren. Konkret geht es darum, wie Technik das Verhältnis von Verfügbarem und Unverfügbarem und damit zugleich das Verhältnis zwischen Technik und Religion verschiebt. Damit wird zum einen das Interesse von Theologie und Religion an Technik und zum anderen die zum Teil negative Sicht der Technik von Seiten der Theologie erklärt. Es ist die Absicht des Forschungsprojekts, an die Stelle eines negativen Gegensatzverhältnisses nach positiven Anknüpfungspunkten für die Theologie in Bezug auf Technik zu suchen (vgl. Ch. Schwarke, Technik und Religion, Stuttgart 2014, 11.22).
Der erste Teil des Bandes handelt von verschiedenen Techniktheorien in der ersten Hälfte des 20. Jh.s, der zweite von Möglichkeiten eines konstruktiven theologischen Zugangs zur Technikdeutung. Um dem Eindruck der Disparatheit der behandelten Autoren – wie auch der Artikel – zu begegnen, haben die Herausgeber in der Einleitung übergreifende Themenkreise (Bedeutung der Technik in der Moderne; Relation von Technik und Macht sowie zwischen Technikdeutungen und theologischen Weltdeutungen) herausgestellt, die im Sinne von überlappenden Kreisen die einzelnen Beiträge und Themen miteinander verbinden sollen (vgl. 10 ff.). Neben den philosophischen Ansätzen von Max Weber, Martin Heidegger und Walter Benjamin werden die theologischen Konzepte von Paul Tillich, Gordon D. Kaufmann/Sallie McFague und Dietrich Bonhoeffer vorgestellt. Die Beiträge stammen meistens von wissenschaftlichen Mitarbeitern an theologischen Lehrstühlen und beschränken sich oftmals auf die detaillierte und durch Quellenbelege ausgewiesene Darstellung der Positionen der be­handelten Autoren. Eine kritische Auseinandersetzung sowie wirkungsgeschichtliche Einordnung erfolgt lediglich am Rande. Die behandelten Autoren ergehen sich nicht in einer pauschalen Ab­lehnung von (moderner) Technik, sondern thematisieren die Ambivalenz als deren Grundcharakter. Außerdem stellt deren Technikdeutung weniger eine genuine Techniktheorie dar, sondern bildet eher ein Anwendungsfeld von deren philosophischem bzw. theologischem Grundansatz.
Der zweite Teil des Bandes setzt mit Rudolf Bultmanns Kategorie der »Unverfügbarkeit« ein, die dieser maßgeblich geprägt hat. Die ausführliche Analyse stößt auf die Schwierigkeit, dass »Unverfügbarkeit« bei Bultmann gar nicht in den Kontext von dessen Technikreflexionen, sondern von dessen menschlichem Existenzverständnis gehört, weshalb allererst über Rekurse auf Blumenberg und Husserl von der Autorin (A.-M. Richter) versucht wird, diese Kategorie für die Technikdeutung fruchtbar zu machen. Ein weiterer Beitrag befasst sich mit der theologischen Technikkritik von Michael Trowitzsch. Dieser stützt seine Kritik nicht auf den Begriff der »Unverfügbarkeit«, sondern auf die These, Technik vollziehe eine totalitäre Wirklichkeitsaneignung und erhebe einen absoluten, (quasi-)religiösen Machtanspruch, der im Widerspruch zu Religion und Glauben stehe. Der Position Trowitzschs setzt desr Verfasser ( R. Charbonnier) das Konzept von Technikethik entgegen, das Einflussnahme auf technische Entwicklungen unter den Bedingungen moderner funktional differenzierter Gesellschaft ermöglichen soll. Rituale als technisiertes Handeln im Umgang mit menschlichen Lebensformen und deren Probleme bilden ein weiteres Thema des Bandes. Sie generieren Gemeinsinn und verweisen in ihrem »Transzendenzbezug« auf die Unverfügbarkeit und Gefährdetheit dieses Gemeinsinnes. Der letzte Beitrag (St. Schleissing) befasst sich mit den Rollen von Theologen in unterschiedlichen Technikdiskursen. Er diagnostiziert ein weithin ge­spaltenes Verhältnis der protestantischen Theologie zur modernen Technik und setzt dagegen – in der Tradition Trutz Rendtorffs – eine grundsätzlich positive Sichtweise von Technik als Folge christlicher Freiheit. Gegen die Fokussierung weiter Teile der protestantischen Theologie auf die (negativen) gesellschaftlichen Folgen der Einführung moderner Technologien (z. B. PID) setzt der Autor eine verfahrens- und konsensorientierte sowie moderierende Rolle der Theologen, wie sie sich in Ethikkommissionen manifestiert. Offen bleibt hierbei die Frage, ob und wie die Spannung zwischen moderierender und normativer, zwischen funktionaler und positionaler Rolle gelöst werden kann.
Der Sammelband bietet detaillierte Analysen und eine Vielzahl an anregenden Informationen sowie weiterführenden Literaturhinweisen. Die behandelten Positionen werden durch die Kategorien von Transzendenz und Unverfügbarkeit miteinander verbunden, mit der Konsequenz, dass diese Kategorien in ihrer inhaltlichen Bestimmtheit stark reduziert werden und eher als formale Klammern fungieren, weshalb sie teilweise gegen das Selbstverständnis der behandelten Autoren (z. B. Bultmann, Trowitzsch) zum Zuge gebracht werden müssen. Vielleicht bietet dies ja Stoff für einen weiteren Band des Dresdener Projekts.