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Ausgabe:

September/2015

Spalte:

984–085

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Lück, Anne-Kathrin

Titel/Untertitel:

Der gläserne Mensch im Internet. Ethische Reflexionen zur Sichtbarkeit, Leiblichkeit und Personalität in der Online-Kommunikation.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2013. 253 S. m. 25 Abb. = Forum Systematik, 45. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-17-023440-6.

Rezensent:

Ilona Nord

Die Dissertationsschrift von Anne-Kathrin Lück, die an der Züricher theologischen Fakultät unter Begleitung von Johannes Fi­scher entstanden ist, thematisiert medienethische Fragen betreffend Sichtbarkeit, Leiblichkeit und Personalität in Internetkommunikationen.
In der Einleitung benennt L. ihr Forschungsinteresse: Sie möchte einerseits herausarbeiten, warum Menschen sich innerhalb von Social Media-Kommunikationen sozusagen selbst gläsern machen, andererseits recherchiert und reflektiert sie, nach welchen Kriterien Online-Bewertungsportale Personenprofile erstellen. Die Arbeit soll dazu beitragen, Orientierungshilfen für den Umgang mit diesem Kommunikationsbereich zu liefern.
L. wählt hierzu einen nicht-normativen, sondern deskriptiven und phänomenologisch-hermeneutischen Zugang (mit Bezug auf M. Merleau-Ponty). In dieser Zugangsweise liegt es begründet, dass L. sich der Frage der Leiblichkeit und damit verbunden auch der Sichtbarkeit in computergestützten Kommunikationen mit besonderer Aufmerksamkeit widmet: »Denn dass die eigene Leiblichkeit hier anders erfahren wird und man mit ihr online anders umgehen kann als offline, das scheint außer Frage zu stehen.« (27) L. schließt darüber hinaus an eine ethische Theologie an, die sich auf die Arbeiten Trutz Rendtorffs zur menschlichen Lebensführung und zur Entwicklung eines spezifisch theologischen Wirklichkeitsverständnisses bezieht. Damit formuliert sie selbst den Auftrag, das Potential christlicher Wirklichkeitsverständnisse im Kontext medienethischer Fragen auszuweisen. Zu diesem Zweck entwickelt sie anthropologische Argumentationen und überprüft deren Leistungsfähigkeit exemplarisch anhand des Lehrer/innen-Bewertungsportals »spickmich« und des inzwischen bereits aufgegebenen Pfarrer/innen-Bewertungsportals »hirtenbarometer«.
Zum Überblick über die gesamte Arbeit: Auf die Einleitung folgt eine kommunikationswissenschaftliche Darlegung zu Social Media sowie zu Online-Bewertungsportalen (2). Sodann werden die Topoi Sichtbarkeit, Personalität, Achtung der Person sowie Persönlichkeit erörtert (3). Auf diese Erörterungen aufbauend diskutiert sie den Zusammenhang von Leib und Kommunikation sowie die identitätsstiftenden Funktionen von Sichtbarkeit. Dies geschieht im Horizont ambivalenter Wahrnehmungen von Online-Kommunikationen, die sich zwischen der Lust, ein sichtbarer Mensch, und der Angst, ein gläserner Mensch zu sein, bewegen (4). Das Schlusskapitel 5 ist wie oben erwähnt der Konkretion von Online-Bewertungsportalen aus ethischer Perspektive gewidmet.
Einblicke in das Kapitel zur theologischen Anthropologie (3): Zum Thema Sichtbarkeit baut L. auf eine biblische Argumentation auf, die Gen 2–3, die Paradieserzählung, in den Fokus rückt. Leiblich zu sein bedeute, an einen sichtbaren Körper gebunden zu sein; das Phänomen der Scham erhält in diesem Zusammenhang eine aufschlussreiche Bedeutung für die Entwicklung von Personalität (92). Das Verständnis von Personalität entfaltet L. im Rahmen einer Theorie der Anerkennung. Personalität sei nichts empirisch Aufweisbares, sondern bezeichne eine relationale Wirklichkeit, die nur im Akt der Anerkennung gegeben sei. Theologisch fundiert sie diese in der Gott-Mensch-Beziehung; jeder Mensch werde dadurch Person, dass er von Gott als »Du« ins Dasein gerufen und angesprochen werde (vgl. 112). Den Aspekt der Achtung der Person verankert L. in dem Motiv christlicher Nächstenliebe als auch in konkreten Formen persönlicher Liebe, die sich aus der Zuwendung Gottes zu jedem Menschen als Auftrag ergebe (125). Das Verständnis von Persönlichkeit wird ebenfalls phänomenologisch erörtert; sie komme leiblich zum Ausdruck und bilde sich in und durch zwischenleibliche Begegnungen (127). Aufbauend auf diese Grundlagen stellt L. die Frage, inwiefern auch computervermittelte Online-Kommu-nikationen als leiblich gebunden wahrzunehmen sind (134). Sie kommt zu dem Schluss, dass Online-Kommunikationen auf vorgängige bzw. immer wiederkehrende leiblich erfahrene Begegnungen face-to-face angewiesen sind (147); leider bleibt offen, wie das Zusammenspiel von face-to-face und online-Kommunikationen denn genauer gedacht werden kann. Doch dass die Dissertationsschrift genau diesen Zusammenhang im Grunde als roten Faden mit sich führt, ist ihre Stärke, auch wenn sie noch keine weiterführenden theologischen Argumentationen in diesem Fragehorizont liefern kann.
Leider bleiben die theologischen Argumentationen und die medienethischen Fragestellungen ebenfalls über weite Strecken noch recht unverbunden nebeneinander stehen. So hätte es nahegelegen, in den Zusammenhang der Entfaltung des Rechts auf Anerkennung der Person das Recht des Individuums am eigenen Bild (vgl. Kunsturhebergesetz) einzubringen. Auf diesem Wege hätte man auch weitere Anschlussstellen aus der theologisch-ethischen Diskussion von Sichtbarkeit für den Kontext von Datenschutzfragen interessant machen können. Diese Kritik zeigt allerdings auch an, von welcher Relevanz die Themen sind, die in dieser Dissertationsschrift bewegt werden. Deshalb seien ihr dennoch viele Leserinnen und Leser gewünscht, denn sie bietet auf gut lesbare Weise Einblick in einen wesentlichen Fragehorizont innerhalb der medienethischen Debatte.