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Ausgabe:

September/2015

Spalte:

979–981

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Mette, Kathrin

Titel/Untertitel:

Selbstbestimmung und Abhängigkeit. Studien zu Genese, Gehalt und Systematik der bewusstseins- und kulturtheoretischen Dimensionen von Falk Wagners Religionstheorie im Frühwerk.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. VIII, 342 S. = Dogmatik in der Moderne, 6. Kart. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-152444-8.

Rezensent:

Ulrich H. J. Körtner

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Wagner, Falk: Christentum in der Moderne. Ausgewählte Aufsätze. Hrsg. v. J. Dierken u. Ch. Polke. Tübingen: Mohr Siebeck 2014. VIII, 533 S. = Dogmatik in der Moderne, 9. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-16-151953-6.


Der Denkweg Falk Wagners (1939–1998) ist die Geschichte eines Scheiterns, wenngleich eines Scheiterns auf höchstem Niveau. Dennoch geht von seinem Denken offenbar immer noch oder erneut eine große Faszination aus. Postum ist eine Reihe von Aufsatzbänden erschienen, die sein Erbe präsent halten und seine Rezeption in gegenwärtigen theologischen und religionsphilosophischen Diskursen fördern wollen. Mit seinem Versuch, die Tradition der spekulativen Theologie des 19. Jh.s wiederzubeleben, galt Wagner zu Lebzeiten als Außenseiter. Dazu trug u. a. seine grobe Polemik gegen die von ihm als »neuevangelische Wendetheologie« abqualifizierte Wort-Gottes-Theologie bei, die in Wagners letzten Lebensjahren an Schärfe zunahm. Zwar hatte er in München und später in Wien einen Kreis von Schülern, deren akademischer Einfluss aber begrenzt blieb. Nur wenige waren bereit, seine radikalen Positionen zur Gänze zu übernehmen. Ein Teil der gegenwärtigen deutschsprachigen Theologen vertritt aber das Anliegen, eine moderne philosophische Theologie im Anschluss an den deutschen Idealismus zu begründen. Darin weiß man sich mit Wagner bei allen Unterschieden im Einzelnen einig.
Auch die nun vorliegende, von Jörg Dierken und Christian Polke herausgegebene Aufsatzsammlung sowie die Dissertation von Kathrin Mette würdigen Wagner als Vordenker einer neuen philosophischen Theologie, die sich als Alternative sowohl zur Wort-Gottes-Theologie und ihren Erben, also auch zu einer religionstheoretischen Grundlegung der Theologie versteht, die bei Be­griff und Phänomen der Religion einsetzt, dabei aber die begründungstheoretische Problematik der Theologie vernachlässigt. So steht uns offenbar ein neuer systematisch-theologischer Forschungszweig ins Haus, die »Wagnerforschung« (7), die laut M. erst an ihrem Anfang steht. Ihrer Dissertation, der »erste[n] Monographie, die sich ausschließlich mit Falk Wagner beschäftigt« (17), sollen nach dem Wunsch M.s noch viele weitere folgen. Sie selbst kündigt eine weitere Untersuchung an, in der sie Wagners Schleiermacher-Kritik entkräften möchte (vgl. 234 f.). Am Schluss ihres Buches skizziert sie ein Programm für die zukünftige Wagnerforschung (240 ff.), die sich auf der Seite des theologischen Fortschritts weiß. Bedauerlicherweise werde das Feld der deutschsprachigen Theologie »nach wie vor von den Verfechtern eines offenbarungstheologischen Ansatzes im Gefolge Karl Barths dominiert, prominent vertreten etwa durch Eberhard Jüngel« (241). Das soll sich, geht es nach dem Willen M.s, in Zukunft ändern.
Akribisch, methodisch überzeugend und mit großer gedanklicher Konzentration untersucht M. die Anfänge und das Frühwerk Wagners. M. geht es darum, »die Genese und Systematik von Wagners Münchener Religionstheorie in ihren bewusstseins- und kulturtheoretischen Dimensionen zu rekonstruieren und zwar insofern sie bei Wagner als Entdeckungszusammenhang für Thema und Aufgabe der Theologie fungiert« (16). Im Mittelpunkt stehen Wagners Fichtedeutung, die er in seiner 1971 erschienenen Dissertation zu Fichtes Wissenschaftslehre von 1794/95 vorgelegt hat, und Wagners Schleiermacherinterpretation in seiner 1974 veröffentlichten Habilitationsschrift zu Schleiermachers »Dialektik«. Beide Monographien gelten als maßgebliche Werke zur Fichte- und Schleiermacher-Interpretation.
M. legt eine höchst souveräne und erhellende Rekonstruktion der gedanklichen Entwicklung Wagners in seinen frühen Hauptwerken vor, die auch durch ihre kundigen Ausführungen zur klassischen deutschen Philosophie, insbesondere zu Fichte und Hegel sowie zu Schleiermacher, besticht. Auch untersucht sie im Detail den Einfluss, den seine philosophischen Lehrer Bruno Liebrucks, Wolfgang Cramer und Theodor W. Adorno, aber auch sein Studienfreund Peter Reisinger auf Wagners Denken gewonnen haben. Dagegen ist der Einfluss von Wagners theologischem Lehrer Wolfhart Pannenberg deutlich geringer geblieben. Von einer echten Schülerschaft kann keine Rede sein. Die Grenze zwischen Wagners Früh- und Spätwerk markiert sein Wechsel von München nach Wien, welcher mit der von Wagner selbst als empirische Wende charakterisierten Abkehr von seinem ursprünglichen Programm einer spekulativen Theologie des Absoluten zusammenfällt. Neben Niklas Luhmann wurde nun vor allem Günter Dux zu einem wichtigen Gesprächspartner Wagners.
Am Beginn der Untersuchung stehen Erläuterungen zur Eingrenzung ihres Untersuchungsgegenstandes und zum Aufbau der Arbeit sowie zum Stand der bisherigen Diskussion und Forschung zu Wagner und seiner Theologie. Ein kommentiertes Verzeichnis sämtlicher Publikationen Wagners rundet die Studie ab (258–296). Ihre Grundthese besagt, dass Wagners Forderung nach einem religionstheoretischen Einsatz der Theologie der kantischen Einsicht in die konstitutive Rolle Rechnung tragen möchte, »die dem Subjekt für den Aufbau der theologischen Vorstellungsgehalte zu­kommt« (44). Gegenüber dem Neuprotestantismus nimmt Wagner allerdings in seinem Früh- und Spätwerk eine ambivalente Haltung ein (vgl. 214). Der Religionsbegriff liefert nach Wagners früher Ansicht keine hinreichende Begründung für Theologie und Reli- gionsphilosophie, sondern bedarf seinerseits einer Begründung durch einer an Hegel geschulten Theorie des Absoluten. Wie M. zeigt, ist »die Gesamtlage von Wagners Religionstheorie in ihrer Abhängigkeit von seiner Subjektivitätstheorie zu verstehen« (68), wobei Wagners Fichteinterpretation bereits seine Schleiermacherdeutung vorbereitet (vgl. 110).
Wagners Fichte- und Schleiermacherdeutung, die durch seine Hegel-Rezeption bestimmt ist, wird von M. aber auch einer um­sichtigen Sachkritik unterzogen. Seiner Interpretation der »Dialektik« Schleiermachers attestiert M. eine Vorgangsweise, »die Züge der Gewaltsamkeit trägt« (135). Für problematisch hält M. auch Wagners grundsätzliche Entscheidung, »die Genese des religiösen Bewussteins maßgeblich an der sogenannten aporetischen Struktur des humanen Freiheitsbewusstseins festzumachen« (170). Dies sei eine »Verengung der religiösen Thematik« (ebd.). In seinem Spätwerk, auf das M. noch ausblickweise eingeht, hat Wagner den Versuch aufgegeben, die Religion als Teil der conditio humana auszuweisen. M. gelangt zu dem Ergebnis, »dass die Religionssoziologie im Spätwerk zumindest einen Teilbereich der Leistungen abdeckt, die für Wagner zuvor die Subjektivitätstheorie erbracht hat« (256).
Der von Dierken und Polke herausgegebene Aufsatzband enthält 21 Studien aus allen Schaffensperioden Wagners. Die Herausgeber haben sie thematisch in drei Abteilungen gegliedert, nämlich Religion und Gesellschaft (33–158), Religionsphilosophie und philosophische Theologie (161–367) sowie Dogmatik in der Moderne (371–527). Befassen sich die Aufsätze des zweiten Teils mit allgemeinen Begründungsfragen von Theologie und Religionsphilosophie, so äußert sich Wagner in den Beiträgen des dritten Hauptteils zu Einzelthemen der materialen Dogmatik. In ihrer Einleitung (1–29) geben die Herausgeber einen Überblick über Wagners Lebensweg und eine lesenswerte Einführung in sein Denken. Auch werden alle in die Sammlung aufgenommenen Aufsätze kurz zusammengefasst (20–29).
Wagner selbst hat die Brüche und Umbrüche in seinem Lebens- und Denkweg stark betont. Wie Mette machen Dierken und Polke aber auch auf die Kontinuitäten im Denken Wagners aufmerksam (vgl. 6). Mit unverkennbarer Sympathie registrieren sie die Hinwendung des späten Wagner zu einem Religionsbegriff, der von der gelebten Religion ausgeht, finden es aber »erstaunlich, dass Wagners neue Sicht auf das Religionsthema im Zeichen des Individuellen nicht zu einer empirisch reichhaltigen Beschreibung religiöser Praktiken gelangt ist« (18). Es stimmt: »Die Konturen des Projekts einer von ihm angestrebten ›Religion der Moderne‹ bleiben eher blass« (ebd.). Es fragt sich nur, warum das so ist. Ließe sich Wagners späte Religionstheologie empirisch anreichern und produktiv fortführen, oder handelt es sich nicht doch eher um eine recht blutleere Abstraktion eines neuprotestantischen, auf eine bestimmte Lesart des Christentums verengten Religionsbegriffs, der zum Dialog und zur Auseinandersetzung mit anderen Religionen – man denke nur an den Islam in seinen unterschiedlichen Spielarten –, aber auch mit dem Phänomen eines um sich greifenden religiösen Indifferentismus nicht viel beizutragen hat? Mit der evangelischen Diasporakirche in Österreich hat Wagner nach eigenem Bekunden stark gefremdelt. Auf ihre theologischen Fragen und ethischen Diskurse hat er sich kaum eingelassen. Auch das gehört zur Ab­straktheit seiner Religionstheologie und ihrer empirischen Wende.
In einem Selbstporträt hat Wagner seinen Lebens- und Denkweg mit dem Märchen von Hans im Glück verglichen. Der steht am Ende zwar glücklich – aber mit leeren Händen da.