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Ausgabe:

September/2015

Spalte:

961–963

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Carter, James

Titel/Untertitel:

Ricoeur on Moral Religion.

Verlag:

Oxford u. a.: Oxford University Press 2014. XXII, 169 S. = Oxford Theology and Reli-gion Monographs. Geb. £ 50,00. ISBN 978-0-19-871715-7.

Rezensent:

Christian Polke

Das Werk Paul Ricœurs steht, gut ein Jahrzehnt nach dessen Tod, im Mittelpunkt zahlreicher wissenschaftlicher Debatten. Vor al­lem Theologen und Religionsphilosophen sind darum bemüht, die Erträge aus einer kritisch-konstruktiven Analyse dieses vielseitigen Autors für die eigenen Arbeiten fruchtbar zu machen. Dazu er­schienen im Laufe der letzten Jahre eine Reihe von Dissertationen und Monographien. Die Besonderheit der hier anzuzeigenden Schrift von James Carter ist, dass sie Ricœur als einen genuinen Religionstheoretiker vorstellt, der das Projekt einer »moralischen Religion« Zug um Zug entwickelt hat – und zwar vornehmlich im Rahmen seiner Ausführungen zur ethischen Anthropologie und zu jenem Ansinnen, das Ricœur selbst als »Auf dem Weg zu welcher Ontologie?« (vgl. die X. Vorlesung aus Das Selbst als ein Anderer) beschrieben hat. »Der fähige Mensch« (L’homme capable, vgl. 7 ff.) wird hierbei auf seine religiöse Tiefendimension beleuchtet. Das entspricht dem Anliegen des späten Ricœur, der sich bekanntlich die Frage stellte, inwiefern das in den Religionen Artikulierte und darin Interpretierte uns an die Grenzen unserer symbolischen Lebenswelten führt und auf eine fundamentalere Schicht unserer Existenz verweist.
Das gut lesbare und in prägnantem Stil gehaltene Buch gliedert sich in sechs Kapitel, wovon das erste die Exposition des Themas beinhaltet (vgl. 1–20) und das letzte eine synoptische Zusammenführung der bis dahin gelieferten Textanalysen (vgl. 135–151). Abgerundet wird das Ganze durch eine allerdings in Andeutungen verbleibende Betrachtung über Ricœurs postum erschienene Ge­danken über den Tod (2007 publiziert unter dem frz. Titel: Vivant jusqu’à la Mort; 152 ff.), die einmal mehr Ricœurs Motiv der auch durch die Philosophie fortzusetzenden »joyful celebration of life in all its dimension« (154) starkmacht.
Den Hauptteil wiederum bilden Interpretationen der drei maßgeblichen Elemente von Ricœurs »Architektonik der moralischen Religion« (vgl. 1.15 ff.). Inhaltlich können sie als metaphysisch, an­thropologisch und ethisch benannt werden, denen sich wiederum drei für Ricœurs Denken maßgebliche Autoren zuordnen lassen: Spinoza, Aristoteles und Kant. Während der Erste dafür steht, den Menschen als einen in einem universalen Lebenskontext Stehenden zu begreifen (vgl. 21–48), geht es beim Zweiten darum, ihn als einen gleichermaßen auf andere Angewiesenen und doch selbst mit Fähigkeiten Ausgestatteten (vgl. 49–73) zu verstehen. Der Dritte schließlich sieht die Bestimmung der humanen Existenz in deren ethischem Vollzug, der auch die Wurzel des Religiösen bildet (vgl. 74–102).
So gleichwertig zunächst Spinoza, Aristoteles und Kant bei der konzeptionellen Erarbeitung der »moral religion« erscheinen, so deutlich wird doch im Zuge der Lektüre die Vorrangstellung Kants. Dies ist weniger der zeitlichen Abfolge geschuldet als dem Um­stand, dass nur durch die Fähigkeit zur reflexiven Autonomie (»re­flexive autonomy«, vgl. Kapitel 5: 103–134) der Mensch moralisch religiös sein kann. Diese ist es nämlich, die ihn befähigt, anzuerkennen, dass er selbst, der er verwoben ist mit einem ihn und seinesgleichen überschreitenden Gesamtzusammenhang, zugleich auf andere angewiesen wie für diese (mit)verantwortlich ist. Moralische Religion erweist sich somit – darin gut kantisch – als das Resultat einer hochstufigen Reflexion, wenngleich diese nicht aus sich selbst heraus erfolgt, noch es bedeutet, nur dazu fähige Menschen könnten religiös sein. Der rationalistische Pathos aber ist gewollt: »life includes reason. What unites Spinoza, Aristoteles, and Kant, is their shared status, in Ricoeur’s architectonic, as rationalist philosophers […] human life would not be human life without that most human of characteristics, reason.« (134)
C.s vorgeschlagene Interpretation von Ricœurs Nachdenken über Religion liest sich mit einigem Gewinn. Hierzu gehört vornehmlich das Freilegen der Bedeutung eines nicht im Kontext rationalistischer Letztbegründung verstandenen Spinozas und seiner ethischen Metaphysik des Lebens. Hier dürften sich gewiss die gewinnbringendsten Versatzstücke jener Ontologie des fähigen Menschen finden, die der späte Ricœur als Metaphysik »of potency and action« im Nachgang zum elementaren Streben ( conatus) alles Lebendigen anvisiert hatte. Inwiefern dabei auch Leibniz Ricœur stärker geprägt hat als bislang angenommen, bedürfte einer eigenen Untersuchung. Weniger überzeugend, da zu wenig argumentativ entfaltet, sind die Ausführungen C.s dort, wo er sich im Anschluss daran bemüht, Ricœurs spinozistische Metaphysik mit dessen Kant und Aristoteles kombinierender ethischer Anthropologie in Einklang zu bringen. Die kategorialen Vorentscheidungen dieser drei Denker divergieren zu stark, und Ricœurs Ausführungen diesbezüglich sind zu marginal, um mögliche Einwände je­weils auf nur wenigen Seiten zu entkräften (vgl. 40–46.99–102; darüber können auch die mit Blick auf das Verhältnis Kant-Aris­toteles angestellten, klugen Überlegungen zur vernachlässigten Tugendlehre Kants nicht hinwegtäuschen; vgl. 82 ff.86 ff.).
Gewichtiger sind jedoch andere Einwände, die sich an der Leitthese des Buches von der »moralischen Religion« entzünden. Letztere wird von C. wie folgt definiert: »in coming to see ourselves as embedded – that is, intimately connected to others – we recognize that, in religious terms, we are bound to others by virtue of what we share. And what we share is not simply our embeddedness […] as (acting and suffering) autonomous agents but also our embeddedness as part of the whole we call Life.« (20) Folgt man nun der Interpretation C.s, dann ist der letzte Gesichtspunkt für das, was religiös mit Worten wie »Gott«, »Natur« oder »Leben« verstanden werden soll, ausschlaggebend. Religion ist mehr oder minder bewusste Rückbindung an einen uns alle miteinander verbindenden Lebenszusammenhang (vgl. 14: »reverence for Life«). Zwar lässt sich dieser elementare religiöse Kontext weiter anreichern, was in verschiedenen Glaubenstraditionen bekanntlich erfolgt, aber für das Konzept »moralischer Religion« bleibt dies marginal.
Hier nun rückt die Interpretation C.s verdächtig nah an jene defizitären Konzeptionen einer moralischen Religion, wie wir sie von so manchem Aufklärer her kennen. So bleibt das Religiöse, wie es C. bei Ricœur vorzufinden meint, merklich abstrakt. Das hat seinen Grund nicht zuletzt darin, dass C. für seine Interpretation alle sich stärker auf spezifische religiöse Traditionen beziehenden Texte Ricœurs zur Sache – so etwa die frühen Untersuchungen zur Symbolik des Bösen, aber auch die späten Überlegungen zu Schuld und Vergebung in Gedächtnis, Geschichte, Vergessen – programmatisch ausklammert (vgl. 12 ff.16). So sehr man ihm darin Recht ge­ben mag, dass Ricœur gegenwärtig viel zu oft und vorschnell christlich vereinnahmt wird, so wenig darf übersehen werden, dass dessen hermeneutische Überlegungen zu jüdisch-christlichen Glaubensbeständen nachgerade nicht primär den Glaubenden im Blick hatten. Eine stärkere Berücksichtigung dieser Texte hätte ein differenziertes Bild von dem ergeben, was C. mit »moral religion« bei Ricœur freizulegen versucht hat, und zwar ohne dabei der Gefahr zu erliegen, aus diesem doch noch einen christlichen Glaubensphilosophen zu machen.
So hinterlässt die Lektüre des Buches einen zwiespältigen Eindruck. Auf der einen Seite gewinnen wir eine neue, faszinierende Sicht auf die »konzeptionelle Architektonik« – die Metapher ist m. E. treffend gewählt – der Philosophie Ricœurs. Auf der anderen Seite fällt die Studie hinter maßgebliche Einsichten der bisherigen Forschung deshalb zurück, weil sie meint, diese vorschnell ausklammern zu müssen. Gerade Letzteres wird man angesichts der analytischen Fähigkeiten C.s nur bedauern können.