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Ausgabe:

September/2015

Spalte:

948–950

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Häusler, Michael, u. Jürgen Kampmann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Protestantismus in Preußen. Lebensbilder aus seiner Geschichte. Bd. III: Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Hansisches Druck- und Verlagshaus 2013. 366 S. m. zahlr. Abb. = edition chrismon. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-86921-108-4.

Rezensent:

Hanns Christof Brennecke

Mit diesem Band kommt die im Auftrage des Arbeitskreises für kirchengeschichtliche Forschung der EKU herausgegebene fünfbändige Reihe der Lebensbilder aus der Kirchengeschichte Preußens zu ihrem Abschluss. Die Idee, der dreibändigen Geschichte der EKU prosopographisch angelegte Bände zur Seite zu stellen, hat sich dabei als sinnvoll und ertragreich erwiesen. Die Lebensbilder umfassen etwa die Epoche von der Revolution 1848 bis zum Ende der preußischen Monarchie 1918. Der Mitherausgeber Michael Häusler hat dem Band eine knappe Einleitung vorangestellt, in der er diesen wichtigen Zeitraum knapp skizziert, der durch die Reichsgründung 1871 in zwei fast gleich lange Epochen unterteilt wird. Für die preußische Kirche ist in diesem Zeitraum die Errichtung des Evangelischen Oberkirchenrates 1850 wichtig, der in der Entwicklung der Kirchenverfassung und dann auch zur kirchlichen Selbständigkeit eine wichtige Rolle gespielt hat, außerdem die Veränderung der kirchlichen Strukturen durch die politischen Ereignisse von 1864/66, indem die Kirchen der von Preußen annektierten Gebiete nicht in die Landeskirche integriert wurden, sondern ihre Selbständigkeit behielten. Ob man die Bedeutung des Neuluthertums für Preußen so hoch einschätzen muss, wird man allerdings fragen müssen (die Neogotik hat im preußischen Kirchenbau des 19. Jh.s eine wesentlich geringere Rolle gespielt, als der Vf. offenbar annimmt).
Die Darstellungen der Lebensbilder kann man als durchweg gelungen bezeichnen, vor allem auch, weil sie sonst weniger bekannte Aspekte hervorheben. Hinsichtlich der Auswahl, die man ebenfalls grundsätzlich als gelungen ansehen kann, wird man sich allerdings auch andere Akzente vorstellen können.
Nicht ganz überzeugend erscheinen in diesem Kontext Lebensbilder von Martin Kähler, Adolf von Harnack und Friedrich Naumann. Gehören sie in die Geschichte des preußischen Protestantismus? Harnack hat in der preußischen Kirche eigentlich keine Rolle gespielt (spielen können), seine Bedeutung gerade auch als Wissenschaftsorganisator ist eher auf das Reich bezogen. Kähler hat zwar eine (kaum bekannte) interessante Schrift über die Rolle Preußens im deutschen Protestantismus verfasst (vgl. 229–234), aber seine Bedeutung als Theologe hat eigentlich nichts mit Preußen zu tun. Dasselbe gilt für Naumann, der nur auf dem Hintergrund der »wilhelminischen« Epoche des Reiches gesehen werden kann.
Vermissen könnte man ein Lebensbild von Otto von Bismarck, dessen Entscheidung, die »neupreußischen« Landeskirchen nicht einfach in die preußische einzugliedern, für die Zukunft wichtig geworden ist. Außerdem könnte man Lebensbilder von Hengstenberg und von Stahl erwarten, die vor allem während der Regierung Friedrich Wilhelms IV. (der im II. Band behandelt wurde) eine sehr wichtige und in mancher Hinsicht vielleicht sogar auch problematische Rolle in der Kirche Preußens gespielt haben. Man hätte auch an die heute weniger bekannten strikten Lutheraner wie G. Knak und Th. Wangemann, den ersten Direktor der Berliner Missionsgesellschaft (»Mission« als Thema fehlt überhaupt), denken können. Über die Rolle Wilhelms II. in der Kirche ist aus demselben Arbeitskreis inzwischen ein eigener Band erschienen (Wilhelm Hüffmeier, Jürgen Kampmann [Hrsg.], Wilhelm II. Kaiser, König, Kirchenmann — Ein Herrscher, der niemals reif wurde?, Unio und Confessio 28, Bielefeld 2014).
Der vorliegende Band bietet Lebensbilder von folgenden Personen aus der Geschichte des preußischen Protestantismus, auf die leider aus Platzgründen nicht im Einzelnen eingegangen werden kann: Moritz August von Bethmann Hollweg (Jochen-Christoph Kaiser); Friedrich Wilhelm Krummacher (Christian Peters); Karl Büchsel (Michael Häusler); Emil Herrmann (Bernd-Christian Schneider †); Theodor Fontane (Wilhelm Hüffmeier); Friedrich von Bodelschwingh d. Ä. (Matthias Benad); Adolf Stoecker (Traugott Jähnichen); Martin Kähler (Michael Korthaus); Ernst Herrmann von Dryander (Bernd Andresen); Adolf von Harnack (Wolf Krötke); Kaiserin Auguste Victoria (Erik Lommatzsch); Friedrich Naumann (Ursula Krey); Eva von Tiele-Winckler (Ute Gause).
Die Beiträge über von Bethmann Hollweg, Krummacher, Büchsel, Bodelschwingh, Stoecker, Auguste Victoria und noch von Tiele-Winckler zeigen die wichtige und prägende Rolle der Erweckungsbewegung in Preußen über eine erstaunlich lange Zeit, wobei der allerdings übliche Begriff »Restauration« (so Kaiser mehrfach) für die Epoche ab 1815, auch wenn er auf von Haller zurückgeht, kirchengeschichtlich wenig hilfreich erscheint, da eine Restauration eigentlich nicht stattfand. Über Bethmann Hollwegs Hoffnung auf eine deutsche Nationalkirche, die in der nationalen Bewegung sinnvoll erscheint, wird man allerdings durchaus unterschiedlicher Meinung sein können.
An der Person von Friedrich Wilhelm Krummacher wird die reformierte Erweckungsbewegung thematisiert, an Karl Büchsel der aus der Erweckungsbewegung hervorgewachsene lutherische Konfessionalismus. An Büchsel wird auch deutlich, wie sehr das Ideal des Dorfes und die Stadtkritik geradezu zu einer ideologischen Komponente der Erweckungsbewegung geworden ist. Kann ein Pfarrer, der fast 40 Jahre an der Prominentengemeinde der Hauptstadt Pfarrer war, sich wirklich als »Landgeistlicher« bezeichnen? Dieselbe Großstadtkritik, die übrigens auch eine Motivation für die Gründung einer Theologischen Schule fern der Großstadt war, worauf M. Benad in seinem Beitrag allerdings nicht eingeht, findet sich dann auch bei Bodelschwingh. An Bodelschwingh und Stoecker, ganz anders dann wiederum bei Kaiserin Auguste Victoria (die Waldersee-Versammlung fand allerdings statt, als Wilhelm noch Kronprinz war!) und Eva von Tiele-Winckler wird deutlich, dass und wie ein Bewusstsein für die soziale Verantwortung der Kirche aus der Erweckungsbewegung kommt und dann sehr unterschiedlich akzentuiert werden konnte.
Emil Herrmann hat nur wenige Jahre in Preußen gewirkt, wurde hier aber kurz nach der Reichsgründung zum Schöpfer der Kirchenverfassung für die älteren preußischen Provinzen, wobei seine kirchenrechtlichen Arbeiten in die Zukunft einer nicht mehr dem landesherrlichen Kirchenregiment verbundenen Kirche verweisen und von daher für seine Zeit außerordentlich interessant sind.
Mit von Dryander wird von Andresen, der über ihn eine umfassende Monographie verfasst hat, ein neuer und ganz anderer Typ des Hofpredigers etwa im Vergleich zu Kögel oder Stoecker vorgestellt, den man aber wohl kaum wie der Verfasser als höchsten Repräsentanten des deutschen Protestantismus oder gar als »Primas des protestantischen Deutschland« (243 f.) ansehen kann.
Der Beitrag von Hüffmeier über Theodor Fontane fällt etwas aus dem Rahmen, da Fontane in der Institution Kirche keine Rolle spielte. Aber Hüffmeier gelingt es hochinteressant, einen calvinis­tischen Grundzug in Fontanes Christentum herauszuarbeiten. In den Skizzen protestantischer Pfarrer im Werk Fontanes wird außerdem eine deutliche Kritik an der engen Verbindung der Kirche mit der Obrigkeit deutlich.
Ein solcher Band regt naturgemäß weitergehende Wünsche an. Aber dieser Band mit Lebensbildern aus dem Protestantismus Preußens in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s ist im Ganzen repräsentativ für die gewählte Epoche. Da die vorgestellten Persönlichkeiten zum Teil sehr eng miteinander verbunden waren – einige haben gleichzeitig in Berlin nebeneinander gewirkt –, wären deutlichere Querverbindungen zwischen den einzelnen Beiträgen hochinteressant gewesen, was aber immer nur eine Anregung sein kann.