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Ausgabe:

September/2015

Spalte:

934–937

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Witulski, Thomas

Titel/Untertitel:

Apk 11 und der Bar Kokhba-Aufstand. Eine zeitgeschichtliche Interpretation.

Verlag:

Tübingen: Mohr Sie­beck 2012. XII, 355 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 337. Kart. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-152182-9.

Rezensent:

Jan Dochhorn

Die Studie von Thomas Witulski ist eine Untersuchung zu Apk 11,1–13, wo der Seher Johannes zuerst den Tempel ausmisst (11,1–2), bevor die heilige Stadt von den Heiden 42 Monate lang zertrampelt werden wird (11,2), woran sich dann der Auftritt von zwei Zeugen anschließt (11,3–13), die 1260 Tage lang auf der Erde wirken und dann vom Tier aus dem Abgrund getötet werden (11,7), öffentlich unbestattet in der Stadt der Kreuzigung liegen (11,8) und schließlich nach dreieinhalb Tagen wieder auferstehen und zum Himmel fahren – mit einem Erdbeben als Folge, bei dem ein Zehntel der Stadt zerstört wird (11,11–13).
Das Buch setzt ein mit einem Überblick über die Forschung zu Apk 11,1–13 (2–17). Präsentiert wird etwa die von Wellhausen aufgebrachte Idee, dass in Apk 11,1–2 eine zelotische Weissagung erhalten sei, die eine Bewahrung des Tempels im jüdischen Krieg vorausgesagt habe; hiergegen wendet W. unter anderem ein, dass der Apokalyptiker kaum eine Weissagung übernommen haben werde, die sich nicht erfüllt habe (2–5). Zurückgewiesen werden auch Versuche, die Tempelweissagung in Apk 11,1–2 auf anderes als den Tempel in der palästinischen Stadt Jerusalem zu beziehen, etwa die Kirche als den wahren Tempel (vgl. 6–7).
Es folgt eine Auslegung von Apk 11,1–13, bei der folgende Thesen besonders markant erscheinen (vgl. 22–141): 1. Das logische Subjekt des an Johannes ergehenden Auftrags, den Tempel auszumessen, bleibt ungenannt und ist höchstwahrscheinlich nicht Gott (23.47–48); ebenso sind die zwei Zeugen wohl nicht von Gott ausgesandt (47–50). 2. Die dem Apokalyptiker aufgetragene Messung des Tempels bezweckt nicht eine Bewahrung, sondern eine Neuerrichtung – und zwar des Tempels in der palästinischen Stadt Jerusalem (28–44). Ebendiese Neuerrichtung aber wird nicht stattfinden, denn der Apokalyptiker führt den Auftrag gar nicht aus, und außerdem ist anschließend in 11,2 von einer Zertretung der heiligen Stadt durch die Völker die Rede (31–32). 3. Die zwei Zeugen sind nicht Zeugen Christi wie etwa Antipas in Apk 2,13; sie verhalten sich auch nicht so, da sie im Verlaufe ihrer Mission Menschen töten (80). Vielmehr handelt es sich um machtvolle Repräsentanten des Judentums (101). Entsprechend muss in Apk 11,8 statt ὅπου … ὁ κύριος αὐτῶν ἐσταυρώθη gelesen werden: ὅπου … ὁ κύριος ἐσταυρώθη, da sie mit dem Kyrios (dort: Christus) nichts zu tun haben (91–94). 4. Der Bericht von der Auferstehung der Zeugen in Apk 11,11–13 ist abweichend von den vorhergehenden Passagen nicht im Futur, sondern im Aorist gehalten. Zudem reagieren die Menschen auf das Erdbeben, das der Auferstehung folgt, mit der Verehrung Gottes, was nicht zu Apk 16 passt, wo die Menschen auf die Schalen-Plagen mit Gotteslästerungen reagieren. Apk 11,11–13 ist daher als Interpolation anzusehen (125–141).
Der nachfolgende Abschnitt ist der Datierung der Apokalypse in die Zeit Hadrians gewidmet (142–177). Wichtige Argumente hierfür sind die Intensivierung des Kaiserkults in der Asia unter Hadrian und die Errichtung des Zeus Olympius-Tempels in Athen, in dem auch Hadrian verehrt wurde. Beides passt laut W. zur Szenerie in Apk 13 ff., und dementsprechend ist der Satan von Apk 12 auf Zeus und das Tier in Apk 13 ff. auf Hadrian zu deuten – und das zweite Tier bzw. der Pseudoprophet auf Antonius Polemon, der in der Asia als Propagandist Hadrians aktiv war (174–175). Es folgt eine Untersuchung zur Bar Kochba-Revolte, die vor allem das mit dem Besuch Hadrians in Palästina um 130 verbundene Konfliktpotential als potentiellen Anlass in den Blick nimmt (178–304). Diskutiert wird auch die Frage, inwieweit in dieser Zeit die Wiedererrichtung des Tempels geplant oder gar schon ins Werk gesetzt war. Aus Barnabasbrief 16,3 wird zuweilen geschlossen, dass Hadrian ursprünglich seinerseits eine Wiedererrichtung des Tempels plante, was freilich unsicher bleiben muss (219–227), während andererseits Münzfunde andeuten, dass die Rebellen mit einer Wiedererrichtung des Tempels zumindest Propaganda machten (273–274). Doch bleibt unklar, ob sie sich Jerusalems überhaupt bemächtigt haben (303–304).
Ein kurzes Schlusskapitel leistet die Synthese (305–309): Die mit dem Bar Kochba-Aufstand gegebene Szenerie fügt sich W. zufolge »zwanglos« (ein mehrfach wiederholtes Wort) zu den inhaltlichen Strukturen von Apk 11,1–13: Geweissagt wird der Versuch einer Wiedererrichtung des Tempels in Jerusalem, deren Scheitern der Apokalyptiker aber voraussieht. Die beiden Zeugen sind prominente Anführer des Aufstandes, Bar Kochba und der Priester Eleazar, die seines Erachtens aber gegen das Tier aus dem Abgrund (= Hadrian), das sie laut Apk 11,7 umbringen wird, keine Chance haben.
Eine Rezension läuft Gefahr, einer originellen These nichts an­deres als die scheinbar gesicherte Konvention entgegenzuhalten. Gleichwohl wage ich es, Gegenargumente zu skizzieren:
1. Um den Tempel und die beiden Zeugen auf Bar Kochbas Revolte und den Versuch einer Wiedererrichtung des jüdischen Tempels zu deuten, muss W. beide »von der Sache Christi« distanzieren. Aber überzeugt das? Warum muss Johannes den Tempel ausmessen, wenn dieser für ihn, den Christen, ein Fremdprojekt ist? Und warum sollte die Stimme, die ihn beauftragt, nicht Gott sein? In Apk 11,1 haben wir mit ἐδόθη ein Passivum, das wohl wie auch andere Passiva in der Apokalypse auf Gott als Ausgangspunkt des Geschehens deutet (vgl. etwa ἐδόθη in Apk 6,2). Und die textkritische Operation, die W. in Apk 11,8 vornimmt, um die beiden Zeugen von Christus abzusetzen, ist alles andere als gewaltfrei: Die Handschriften, auf die er sich beruft, gehören nicht gerade zur Topkategorie, und ihre Lesart ist auch nicht lectio difficilior: Die Verwendung des absoluten ὁ κύριος für Christus in dem von W. favorisierten Text ist vertrauter neutestamentlicher Sprachgebrauch, unvertraut hingegen die gut bezeugte Bezeichnung Chris­ti mit den Worten ὁ κύριος αὐτῶν, die Abschreibern vielleicht distanzierend erschien.
2. W. ist zu schnell fertig mit der Option, den Tempel in Apk 11,1–2 auf anderes als den Tempel in der palästinischen Stadt Jerusalem zu deuten. In der Apokalypse ist vom Tempel ansonsten nur mit Blick auf das himmlische Heiligtum und das künftige Jerusalem die Rede – und hier soll er für ein gescheitertes Vorhaben des Bar Kochba stehen? Und wie kann in Apk 11,2 von dem palästinischen Jerusalem als der heiligen Stadt die Rede sein, wo in Apk 11,8 ebendieses palästinische Jerusalem, der Ort der Kreuzigung Chris­ti, mit Sodom und Ägypten identifiziert wird? Die heilige Stadt wird etwas positiv Konnotiertes sein, vermutlich die Kirche, die in der noch ausstehenden Endzeit bedrängt werden wird.
3. Wenn die beiden Zeugen für Bar Kochba und den Priester Eleazar stehen, warum stellt der Seher sie dann nicht als Fürst und Priester dar? Und haben Bar Kochba und Eleazar Feuer gespuckt oder irgendwas getan, was daran denken ließe (vgl. Apk 11,5)? Das ist kein Witz: Ich meine, dass die von W. vertretene zeitgeschicht-liche Interpretation immer genötigt erscheint, die imaginative Drastik der Apokalypse entmaterialisieren zu müssen, ein Problem, das man nicht hat, wenn man die Apokalypse primär als Weissagung einer (zeitweise ziemlich entsetzlichen) Zukunft deutet. W. stellt überdies speziell Bar Kochba als jemanden dar, der gerade nicht mit einem gesteigerten religiösen Anspruch auftrat (275–285). Über die beiden Zeugen lässt sich das wohl kaum sagen.
4. W. deutet das Tier in Apk 13 ff. auf eine Gestalt aus der Gegenwart des Johannes. Warum aber wird es dann in Apk 17,11 als jemand präsentiert, der noch kommen wird? Meines Erachtens handelt es sich bei dem Tier um jemanden, den der Seher erwartet, und zwar Nero redivivus.
Wir sind bei dem für die Auslegung der Apokalypse wohl wichtigsten Streitpunkt angekommen: Wie andere Forscher setzt W. voraus, dass eine »endgeschichtliche Deutung« der Apokalypse »dem aktuellen Charakter der Apk und ihrer Ausrichtung auf die gegenwärtige Situation des Apokalyptikers und seiner Rezipienten nicht gerecht« werde (11). Aber wäre eine Auskunft darüber, was in den nächsten Jahren geschehen wird, nicht auch ein Wort zur gegenwärtigen Situation? Ich könnte so etwas in meiner eigenen Gegenwart ganz gut gebrauchen. Meines Erachtens wollte die Apokalypse eine solche Auskunft zu ihrer Zeit geben.
Sie hat sich gründlich geirrt. Vielleicht besteht der Reiz der sogenannten zeitgeschichtlichen Interpretation darin, dass sie diesen Missstand verschleiert, wohl kaum je mit Absicht. Hermeneutisch ist mit dem Scheitern der Apokalypse als Prophetie eine Herausforderung benannt, für deren Bewältigung vielleicht die Tatsache relevant ist, dass dem Christentum das Ausbleiben der Naherwartung auch sonst nicht geschadet hat.