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Ausgabe:

Juli/August/2015

Spalte:

873–881

Kategorie:

Literatur- und Forschungsberichte

Autor/Hrsg.:

Friedrich W. Horn

Titel/Untertitel:

Romans in America

Geradezu in einer gegenläufigen Tendenz zu den durch gegen-wärtiges Bibliothekswesen, online-Recherche und verschiedene digitale Kanäle weltweit ermöglichten offenen Zugängen zur wissenschaftlichen Literatur ist im Blick auf die deutsche und nordamerikanische Theologie weithin eine nur zähe gegenseitige Wahrnehmung der bibelwissenschaftlichen Arbeit zu beobachten, die jeweils jenseits des Atlantiks betrieben wird. Dies ist auf allen Ebenen zu beobachten: bei Studierenden, Lehrerinnen und Lehrern, Pfarrerinnen und Pfarrern, ja selbst innerhalb der akademischen Theologie. Man kann das teilweise verstehen, da die Kenntnisse der amerikanischen oder deutschen Sprache jeweils eine Barriere darstellen. Auch befremden gelegentlich die konfessionellen Einbindungen und die Einordnungen der bibelwissenschaftlichen Arbeit in andere universitäre Zuschnitte als im eigenen Land. Dass aber grundlegende Impulse aus Nordamerika nach Deutschland und umgekehrt in den vergangenen Jahrzehnten strömten und hier oder dort einen zweiten Neuansatz nach demjenigen im eigenen Land begründeten, ist mit Blick auf die jüngere Forschung leicht zu belegen. Hierbei musste die eine Seite oftmals warten, bis das Werk der anderen Seite in einer Übersetzung vorlag. Ich nenne als Beispiele für grundlegende Impulse aus Nordamerika für die deutsche Exegese nur die rhetorische Analyse paulinischer Briefe (Hans Dieter Betz 1), die sozialgeschichtliche Analyse (Wayne A. Meeks2) sowie die sogenannte Third Quest for the Historical Jesus3 und die New Perspective on Paul4. Vieles andere wäre hier auch noch anzusprechen.
Der folgende knappe Bericht möchte fünf neuere nordamerikanische Werke aus den USA und aus Kanada zum Römerbrief vorstellen. Diese bilden wahrlich nicht all das ab, was in den vergangenen Jahren zum Thema publiziert worden ist.5 Sie sind vielleicht nicht einmal exemplarisch. Ich begebe mich einfach in die Haltung der neugierigen Athener (nach Apg 17,21b), denen Paulus auf dem Areopag begegnet. Im Folgenden werden zunächst zwei Bücher aus zwei Reihen besprochen, die sich mit der Auslegungs- und Rezeptionsgeschichte des Römerbriefs beschäftigen.6 Es schließen sich zwei Werke an, die einen einführenden Charakter in den Römerbrief haben.7 Schließlich ein großer Kommentar, der außerhalb der bestehenden Reihen erschienen ist.8
Der von Daniel Patte und Cristina Grenholm herausgegebene Band Modern Interpretations of Romans. Tracking their Hermeneutical/Theological Trajectory erscheint als Band 10 der Reihe Romans through History and Cultures. Der Anspruch dieser Reihe lautet: »The series Romans through History and Cultures includes a wealth of information regarding the receptions of Romans throughout the history of the church and today, in the ›first‹ and the ›two-thirds‹ world. It explores the past and present impact of Romans upon theology, and upon cultural, political, social, and ecclesial life, and gender relations.«9 Die bereits erschienenen Bände behandeln folgende Schwerpunkte jeweils in ihrem Verhältnis zum Römerbrief: Israel, Augustinus, Interkulturelle Theologie, Gender, Patristik, Philosophie, Mittelalter, Reformation, Orthodoxie10, Moderne. Das von Daniel Patte (Vanderbilt University/USA) und Cristina Grenholm (Church of Sweden, Uppsala) initiierte Projekt geht zurück auf ein Seminar der Society of Biblical Literature (SBL).
Der die Reihe abschließende Band 10 widmet sich modernen Interpretationen und schreitet in insgesamt zehn zum Teil auf-einander Bezug nehmenden Beiträgen einen Weg ab von Imma-nuel Kant über Friedrich Schleiermacher, Albert Schweitzer, Karl Barth, Erik Peterson, Ernst Käsemann bis zur ›New Perspective and Beyond‹. Die Beiträger lehren oder lehrten an Universitäten in den USA, in Kanada, in Schweden, Großbritannien und Deutschland.
Band 1 wurde im Jahr 2000 mit einer umfangreichen und lesenswerten Ouvertüre der Herausgeber eröffnet. Ihr korrespondiert jetzt in Band 10 ein »Encore: Playing Scriptural Criticism on Romans in Multiple Keys«11. Die Herausgeber stellen den Begriff des Scriptural Criticism ins Zentrum und beziehen diesen einerseits von seiner Herkunft her auf die kritische Analyse biblischer Texte. Andererseits aber ist der Gegenstand der Kritik nun nicht der biblische Text an sich, sondern der in der Kirche rezipierte und vielfach kreativ interpretierte biblische Text, die Bibel (scriptura). In der gemein-samen Arbeit an den zehn Bänden hat sich ein dreifacher Blick zur Beschreibung der jeweiligen Textinterpretation durchgesetzt: a) die Frage nach der spezifischen Methode der Textanalyse; b) die Frage nach dem Kontext, in dem diese Analyse vollzogen und auf den sie bezogen wird; und c) die Frage nach der Hermeneutik oder der Theologie, die die Interpretationen steuert. Patte und Grenholm verdeutlichen dieses Modell an drei ge­genwärtigen Typen der Rö­merbriefauslegung: a) die lutherische, forensische Interpretation (Bultmann, Bornkamm, Stuhlmacher u. a.); b) die New Perspective und die Bundestheologie (Nanos, Stowers, Campbell, Dunn u. a.); c) die apokalyptische Interpretation (Schweitzer, Käsemann, Beker u. a.). Der dreifache Blick zeige nun etwa im Blick auf den Kontext, dass bei der lutherischen Auslegung der entscheidende Bezugspunkt das Individuum sei, bei der New Perspective hingegen der Post-Holocaust-Standort und bei der apokalyptischen (aber auch bei der patristischen und orthodoxen) Auslegung ein Transformationsgeschehen. In der Textanalyse bringt die New Perspective rhetorische und soziologische Perspektiven ein, die apokalyptische Interpretation hingegen eine bemerkenswerte Beachtung der Symbole religiöser Sprache. Grenholm bespricht weitere Kontexte, die hinzugekommen sind, etwa durch Feministische Theologie. Sie beschreibt abschließend, dass in der gemeinsamen Arbeit das ›Lesen des Römerbriefs gemeinsam mit anderen‹ dazu beigetragen habe, die eigene Position zu überdenken, den anderen besser zu verstehen und neue Kontexte zu erschließen. Aus dem »gap between critical and creative interpretations« sei ein »creative space for disciplined discussion of theological issues« geworden (28). Die Herausgeber betonen abschließend, dass ihr Modell des Scriptural Criticism ganz wesentlich auf die religiöse Dimension der Texte für die Leser und ihr gegenwärtiges Leben bezogen sei und dass religiöse Erfahrung stets an die Schrift gebunden sei (24).
Während Romans through History and Cultures mit Band 10 abgeschlossen wurde, liegt die Reihe The Bible in Medieval Tradi-tion, herausgegeben von H. Lawrence Bond, Philip D. W. Krey, Thomas Ryan, eher noch in den Anfängen. Den Auftakt stellte der von Ian Christopher Levy bearbeitete und im Jahr 2011 erschienene Band zum Galaterbrief dar, nun also zwei Jahre später der zweite Band der Reihe zum Römerbrief. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass das patristische Erbe der Schriftauslegung relativ gut erschlossen und allgemein vermittelt ist, der mittelalterliche Be­reich demgegenüber jedoch nur schwach. Vor allem seien nur wenige Texte der mittelalterlichen Exegese in englischer Übersetzung vorhanden. Als Zielgruppe des Projekts haben die Herausgeber »academic study, spiritual formation, preaching, discussion groups, and individual reflection« (I) angegeben. Es ist die Absicht des Werks, die reiche mittelalterliche Bibelauslegung durch eine Übersetzung für die gegenwärtige Bibellektüre wieder zugänglich zu machen. Damit trifft das Werk auf ein wirkliches Desiderat. Ein Editionsplan der folgenden Bände liegt noch nicht vor. Es wäre wünschenswert, wenn das Projekt eine Zukunft hat.
Die Arbeitsschwerpunkte der katholischen und protestantischen Bearbeiter des Bandes zum Römerbrief liegen eindeutig im Bereich der Mediävistik. Ian Christopher Levy unterrichtet am Providence College, einer katholischen, privaten Universität der Dominikaner. Philip D. W. Krey ist Direktor des Lutheran Theo-logical Seminary in Philadelphia, Thomas Ryan ist Direktor des Loyola Institute for Ministry in New Orleans.
Als Referenzgrößen für die Textübersetzungen werden folgende Schriften angegeben: Commentarius Cantabrigiensis (ein anonymer Kommentar aus der Mitte des 12. Jh.s); Petrus Lombardus (12. Jh.); Wilhelm von Saint-Thierry (12. Jh.); Petrus Abaelard (1079–1142); Petrus Johannes Olivi (1247/48–1298), Thomas von Aquin (ca. 1225–1274), Nikolaus von Lyra (1270–1349), Anonymer Commentator von Mont Saint-Michel (Mitte des 9. Jh.s; Manuskripte aus dem 11. Jh.).
Die Herausgeber stellen dem Werk eine Einleitung voran, die einen ausgezeichneten Überblick über die Auslegung des Römerbriefs, angefangen von den Kommentaren der Kirchenväter bis in die vorreformatorische Zeit, bietet (1–58). Hier wird die sich über Generationen fortschreibende Auslegungstradition deutlich. Haimo von Auxerre (9. Jh.) war die entscheidende Quelle des patristischen Materials für die Glossa Ordinaria des 11. Jh.s, die wiederum von Petrus Lombardus zur Magna Glossatura erweitert wurde. Thomas von Aquin und Nikolaus von Lyra sind weitere Stationen auf dem Weg bis zu Martin Luther, der seine Studierenden tief in die mittelalterliche Auslegungstradition einführte und diese dann überwand: Si Lyra non lyrasset, Lutherus non saltasset. Dies verdeutlicht Luthers Abwendung der von Nikolaus von Lyra vorgetragenen Auslegung des ex fide in fidem (Röm 1,17) und der darauf bezogenen Anschauung der fides caritate formata (57).
Die Anlage des Werks ist eigenwillig. Sie folgt dem Duktus des Römerbriefs von Kapitel 1 bis Kapitel 16 und bietet zu jedem Kapitel dieses Briefs (aber nicht versweise) ausgewählte Abschnitte jeweils nur eines mittelalterlichen Theologen in englischer Übersetzung. Zu Röm 1: Commentarius Cantabrigiensis; zu Röm 2: Wilhelm von Saint-Thierry; zu Röm 3: Petrus Abaelardus etc. Betrachten wir, um das Vorgehen zu verstehen, die Durchführung exemplarisch an Röm 3,20. Der biblische Text ist ausschnittsweise fett in Übersetzung abgedruckt: »Because by the works of the law no flesh will be justified before God« (Röm 3,20). Es schließt sich die Erklärung Abaelards zu dem Syntagma ›works of the law‹ an: »The works of the law refer to the bodily observances to which the people of God gave very great attention, such as circumcision, sacrifices, keeping the Sabbath, and other symbolic injunctions of this kind. By the phrase no flesh the Apostle is referring to the people who fulfill the works of the Law carnally rather than spiritually« (110 f.). Hier fügen die Bearbeiter eine Fußnote ein und erklären: »This is the classic medieval principle that the ceremonial rites prescribed by the Law of Moses should be understood spiritually ( spiritualiter) and thus regarded as symbols pointing towards the greater reality of salvation in Christ and his Church« (111, Anm 16).
Aus welcher lateinischen Abaelard-Ausgabe hier übersetzt wurde, kann man über das Literaturverzeichnis erschließen (CChr.CM 11); im Text fehlen leider diesbezügliche Angaben. Die Fußnoten sind ausgesprochen hilfreich. Oftmals stellen sie den Bezug zur altkirchlichen Auslegungstradition her oder verweisen auf philologische Aspekte im übersetzten Text. Blickt man auf die jüngere, durch die New Perspective on Paul ausgelöste exegetische Debatte über die ἔργα νόμου, so meint man deren Interpretation als identity bzw. boundary markers bereits bei Abaelard erkennen zu dürfen.
Die beiden folgenden Bücher gehören eher in die Gattung ›Einführung in den Römerbrief‹, auch wenn sie sich von ihrer Anlage her sehr unterscheiden. Jerry L. Sumney, Professor am Lexington Theological Seminary in Kentucky, hat als Herausgeber zwölf teilweise recht namhafte und überwiegend nordamerikanische Autorinnen und Autoren zu folgenden Themen kurze Beiträge verfassen lassen:
Mark D. Nanos: To the Churches within the Synagogues of Rome; A. Andrew Das: The Gentile-Encoded Audience of Romans. The Church outside the Syna-gogue; Sylvia C. Keesmaat: Reading Romans in the Capital of the Empire; A. Katherine Grieb: The Righteousness of God in Romans; Joel B. Green: Atonement Images in Romans; Francis Watson: The Law in Romans; Rodrigo J. Morales: ›Promised through His Prophets in the Holy Scriptures‹. The Role of Scripture in the Letter to the Romans; James D. G. Dunn: Adam and Christ; L. Ann Jervis: The Spirit Brings Christ’s Life to Life; E. Elizabeth Johnson: God’s Covenant Faithfulness to Israel; Caroline Johnson Hodge: ›A Light to the Na-tions‹. The Role of Israel in Romans 9–11; Victor Paul Furnish: Living to God, Walking in Love. Theology and Ethics in Romans. Jeder Beitrag in diesem Buch be­ginnt mit einer kurzen Skizze der gegenwärtigen Diskussionslage zum Thema, die in Anfragen an den vermeintlichen Konsens münden. Daran schließt sich die vom Autor des Beitrags vertretene Position an. Abschließend bietet jeder Beitrag wenige knapp kommentierte Hinweise ›For Further Reading‹.
Sumney führt knapp in den Band ein. Die Zeiten, diesen Brief als zeitlose Summe der paulinischen Theologie zu verstehen, seien durch eine Kontextualisierung seiner verschiedenen Abfassungsgründe überwunden. Sumney verweist auf den prägenden Einfluss des 30 Jahre lang in Princeton lehrenden J. Christiaan Beker (1924–1999). Beker hatte eine dialektische Wechselwirkung von innerer theologischer Geschlossenheit (Kontingenz) und Situationsbezogenheit (Kohärenz) gelehrt, wobei für die Kontingenz die apokalyptische Interpretation der Christologie nicht peripher, sondern zentral sei. 12 Wenige Beiträge seien näher vorgestellt, da sie eine spezifisch nordamerikanische Perspektive einbringen.
Der den Band eröffnende Beitrag von Mark D. Nanos13 be­stimmt die Adressaten in Rom als »subgroups of the Jewish communities that believed Jesus represented the dawning of the await-ed age« (12). Die von Paulus im Römerbrief angeschriebenen Adressaten sind also wohl von ihrer Herkunft her Nicht-Juden (so auch eindeutig der Beitrag von A. Andrew Das), leben aber in einer subgroup-identity innerhalb (!) des jüdischen Synagogenverbandes. Die Vorstellung, es habe in Rom zu dieser Zeit bereits eine Aufteilung in jüdische Gemeinde in Synagogen/Hausgemeinden einerseits und christliche Gemeinde in Hausgemeinden andererseits gegeben, sei völlig abwegig. Für Paulus hänge die Identität der Glaubenden immer an der Zugehörigkeit zum jüdischen Volk Gottes. Die Heidenchristen partizipieren kraft ihrer Nähe zu jüdischen Gruppierungen in Rom an dieser Identität. Nanos stellt die gängige These, dass viele Juden (und Judenchristen) mit dem Claudius-Edikt im Jahr 49 n. Chr. die Stadt Rom verlassen mussten, dann im Jahr 54 n. Chr. zurückkehrten und in der jetzt überwiegend heidenchristlichen Gemeinde eine Minorität darstellten, gründlich in Frage. Nach seiner eigenen Sicht haben nur wenige Juden Rom verlassen müssen. Den Anlass der Judenausweisung bringt er mit Streitigkeiten um eine unbekannte Person namens Chr ēstus, Träger eines geläufigen römischen Namens, zusammen. Nanos lehnt also die mehrheitlich vertretene These, diesen bei Sueton, Nero 16,2, ge­nannten Chrēstus mit Christus zu identifizieren (Itazismus), ab. Das bedeutet, dass es nach dieser Interpretation keine wesentliche Schwächung der jüdischen Gemeinde in Rom gegeben hat. In seiner Exegese von Röm 9–11 zeigt Nanos, dass das Interesse des Paulus nicht diesen christusgläubigen Heiden gilt, sondern ausschließlich Israel.
Gleichfalls auf eine SBL-Gruppe (Paul and Politics) geht die ur­sprünglich in Nordamerika seit den 1990er Jahren vorgetragene politische und antiimperiale Paulusdeutung zurück, die politische und sozio-ökonomische Strukturen innerhalb des Imperium Romanum berücksichtigt. In ihr kommen ähnlich wie bei der New Perspective on Paul massive Vorbehalte gegen die klassische, von der Reformation geprägte europäische, am Individuum ausgerichtete Paulusdeutung zum Durchbruch.14 Sylvia C. Keesmaat, die ihrerseits eine große Monographie zum Römerbrief vorbereitet, bietet in der Form eines Dialogs einen Einblick in eine politische Lektüre des Römerbriefs.
Die Lektüre des Bandes, so bereichernd sie im Einzelfall auch sein mag, macht doch auf ein grundlegendes Verständigungsproblem aufmerksam. Deutschsprachige Beiträge, die nach meiner Sicht wesentliche Forschungsfortschritte zur Römerbriefexegese dargestellt haben, werden nicht rezipiert. Dazu zähle ich Standardwerke wie die Paulusmonographien von Udo Schnelle15 und Michael Wolter,16 Forschungsberichte,17 Aufsatzbände,18 Sammelbände19 oder Detailuntersuchungen wie diejenigen von Florian Wilk zum Schriftgebrauch20 oder von Cilliers Breytenbach zur Versöhnungsterminologie21.
Richard N. Longenecker, emeritierter baptistischer kanadischer Professor der Universitäten in Toronto und Hamilton (Ontario), und der Verlag Eerdmans/Grand Rapids kündigen gemeinsam einen großen Kommentar zum Römerbrief in der Reihe New International Greek Testament Commentary (NIGTC) für Ende 2015 an.22 Die umfangreiche Einführung muss als eine entscheidende Etappe auf dem Weg zu diesem Kommentar betrachtet werden, was auch in vielfachen Ausblicken im Text auf den Kommentar zum Ausdruck kommt. Sie bewegt sich auf einem wissenschaftlich hohen Niveau, ist materialreich, kennt die Sekundärliteratur und hat sie verarbeitet. Die Lektüre erfordert Zeit. Das Format einer Einführung, die griffig in eine biblische Schrift einleitet, tritt zunehmend neben die Gattung des durchgehenden Kommentars. 23
Longenecker hat den Stoff folgendermaßen gegliedert. Teil 1 beschäftigt sich mit den sogenannten Einleitungsfragen (Autor, Sekretär, Integrität sowie Ort und Zeit des Briefs). Teil 2 geht auf die Adressaten ein (die Stadt Rom, Juden in Rom, Anfänge des Chris­tentums in Rom, Identität der Adressaten) sowie auf die Frage des Abfassungszwecks des Römerbriefs. Teil 3 bespricht rhetorische und epistolographische Fragen sowie alle Aspekte der verarbeiteten Traditionen inkl. des alttestamentlichen Textes. Teil 4 widmet sich Fragen der Textkritik und der Texttradition sowie der Interpreta-tion zentraler Syntagmata des Römerbriefs (Gerechtigkeit Gottes, Rechtfertigung und Glaube, in Christus, Glaube Jesu Christi, Versöhnung und Friede), Fragen des antiken Kontextes (Ehre und Schande), setzt sich aber auch, wenn auch vielleicht etwas zu knapp, mit der New Perspective auseinander. Der abschließende Teil 5 analysiert die zentralen Texteinheiten in Röm 1–8 und das Verhältnis von Briefrahmen und Briefkorpus.
Diese Einführung breitet Beobachtungen und Argumente behutsam aus, bindet die Leserschaft aber nicht an eigene Positionen oder an aktuelle Trends. Im Gegenteil, es werden auch die schwierigen textkritischen Fragen nach dem Umfang und Ab­schluss des Römerbriefs sowie nach der ältesten Textgestalt ausführlich vorgestellt, ohne dass die Sprödigkeit des Themas die Lektüre er­schlüge. Die New Perspective on Paul (330) oder die rhetorische und die epis­-tolographische Analyse werden aufgearbeitet, aber kritisch eingeordnet. Longenecker öffnet den Blick dafür, dass Paulus in Röm 1,16–15,13 etliche Abschnitte aus älterer mündlicher Predigt einbaut. Diese seien daher primär auf ihre rhetorischen Konventionen, nicht aber auf ihre Epistolographie hin zu analysieren (224 f.). Überhaupt gelte: »The recognition of residual orality in Paul’s letter to the Romans is a study still very much in its infancy« (176). Ebenso rät Longenecker an, nicht bei der Analyse der o. g. Syntagmata und Themen des Römerbriefs stehen zu bleiben, sondern präzise darauf zu achten, zu welchem Zweck und an welchem Ort innerhalb des Briefes sie eingesetzt werden.
Zuletzt soll ein Kommentar vorgestellt werden. Angesichts der bereits besprochenen Menge und Vielfalt an gegenwärtigen Kommentaren zum Römerbrief muss die Frage gestellt werden: cui bono? Es stehen an großen und bedeutenden Kommentaren allein in Nordamerika Achtemeier, Fitzmyer, Jewett, Johnson, Keener, Moo, Schreiner, Talbert, Witherington III, Ziesler nebeneinander, und der Kommentar von Longenecker ist angekündigt. Es ist gut, dass in der Bibelwissenschaft zunehmend die Frage gestellt wird, wie dieser Kommentar-Markt überhaupt zu erklären ist, wer ihn bedient und wem er dient, wie Verlagshäuser Einfluss nehmen, was Kommentare überhaupt leisten sollen. Gibt es klare Zuordnungen von Verlagen zu einem erwarteten spezifischen Markt, der bedient wird? Nordamerikanische Autorinnen und Autoren geben in der Regel im Vorwort klar an, welche Leserschaft sie im Blick haben. Die Vielzahl der Kommentare scheint mir auf jeden Fall erklärungsbedürftig, vielleicht sogar eine Krise der Gattung Kommentar nach sich zu ziehen. 24
Arland J. Hultgren lehrt seit 1977 am Luther Seminary, St.Paul/ Minnesota. Sein Kommentar erscheint, was etwas ungewöhnlich ist, aber auch nicht erklärt wird, außerhalb einer Kommentarreihe. Zunächst fällt auf, dass Hultgren die internationale Literatur sehr breit und noch weit intensiver als Longenecker wahrgenommen hat. 51 Kommentare werden sozusagen als ›Ständige Zeugen‹ aufgeführt (XXV–XXVII), lange Literaturlisten stehen vor jedem einzelnen Abschnitt (Kapitel, Perikope) des Kommentars, der mit einer zusätzlichen Schlussbibliographie (40 S.), in der öfter zitierte Titel erscheinen, abschließt. Im Blick auf die wissenschaftliche Präsenz und Gewissenhaftigkeit ist Hultgren vorbildlich. Im Mittelpunkt des Kommentars eines lutherischen Theologen steht die versweise vorangehende Exegese des Briefs. Acht Appendizes behandeln überwiegend klassische Themen der Römerbriefauslegung exkursartig, allerdings auf immerhin 100 Seiten Text.
Mit deutlichen Worten schließt Hultgren den Exkurs zu Röm 1,26 f. und zum Thema Homosexualität ab: »There can be no virtue in perpetuating an error in judgment, even if it is traditional and is, according to a traditional reading, thought to be expressed in Scripture itself« (620). Die überkommene Sicht, Homosexualität als perverses Verhalten zu bewerten, sei nicht länger zu akzeptieren. Viele erste Reaktionen auf Hultgrens Kommentar in Nordamerika sprachen gerade diese Positionierung an, etliche verhielten sich sehr kritisch dazu. Manche warfen Hultgren vor, nur an dieser Stelle die Literatur nicht ausgewogen wiedergegeben zu haben, da Homosexualität auch in der Antike als Anlage des Menschen bekannt gewesen sei und somit Hultgrens Unterscheidung von Antike und Moderne bzw. seine Annahme eines Bewusstseins für die sexuelle Orientierung erst in der Moderne nicht überzeugend seien.
Hultgren folgt, wie auch Douglas J. Moo, nicht dem Ansatz der New Perspective, auch wenn er deren Kritik an einer anthropozentrischen Paulusauslegung teilt. Für Hultgren steht im Mittelpunkt des Römerbriefs ein theologisches Problem: Wie kann Gott die Schöpfung wiedergewinnen? Die anthropologischen Fragen, wie Gott Heiden in sein Volk aufnimmt und wie er an den Israel gegebenen Verheißungen festhält, sind demgegenüber nachgeordnet (26). Auch wenn der Römerbrief nicht als Kompendium der christlichen Lehre betrachtet werden kann (so Melanchthon), so stelle er doch »[…] a summation and projection of Paul’s primary theological convictions delivered to a community that knew him only in part […]« (19) dar.
In der Frage nach dem Abfassungszweck des Römerbriefs hält Hultgren mit der neueren Forschung fest, dass die Reduktion auf ein einziges Anliegen abwegig sei (10–13), wiewohl ein Hauptzweck, dem andere Absichten zugeordnet werden, bestehe: »In light of all this, the primary purpose for the writing of Romans, without which it cannot be explained at all, is that Paul wrote the letter to prepare the groundwork at Rome for his mission to Spain in case a crisis should happen in Jerusalem« (15). Er wolle die römische Gemeinde als Missionspartner (›ally‹) für Spanien gewinnen. Dies wiederum bedeutet auch, dass etliche Abschnitte des Römerbriefs, z. B. die Ausführungen zu Starken und Schwachen (Röm 14,1–15,13) oder diejenigen zum Verhältnis der Christen zu den römischen Behörden (Röm 13,1–7), nicht aus der römischen Situation heraus zu verstehen, sondern eher der paulinischen Selbstvorstellung zuzuordnen sind, insofern sie sowohl seine Haltung zwischen Freiheit und Gesetzesobservanz als auch seine politisch loyale Haltung klären. »He made a first installment of his theological views so that, in case of a crisis in Jerusalem, he would not have to defend himself when he arrived in Rome […]« (15).
Romans in America – ich nehme Anregungen und Fragen mit. Das Beachten der Auslegungs- und Rezeptionsgeschichte des Rö­merbriefs hält für die neutestamentliche Arbeit einen Blick für das Gesamte der Theologie wach. Ein durchgehend brisantes Thema ist die Frage des Verhältnisses von Christusgläubigen zu Juden im Blick auf den Begriff des Volkes Gottes. Das Interesse an Rhetorik und Epistolographie und deren Stellenwert für die Interpretation erscheinen notwendig, aber begrenzt. Die theologischen Themen des Römerbriefs drängen nach vorne. Die Flut von Kommentaren, die sich nur selten fundamental voneinander unterscheiden, macht stutzig und verlangt nach einer Erklärung.

Fussnoten:

1) Betz, Hans Dieter: Galatians. A Commentary on Paul’s Letter to the Churches in Galatia. Hermeneia, Philadelphia 1979. Eine deutsche Übersetzung erschien 1994.
2) Meeks, Wayne A.: The First Urban Christians. The Social World of the Apostle Paul, Yale 1983. Eine deutsche Übersetzung erschien 1993.
3) Als Forschungsüberblick: Meyer, John P.: The Present State of the ›Third Quest‹ for the Historical Jesus: Loss and Gain, Biblica 80, 1999, 459–487; Witherington III, Ben: The Jesus Quest. The Third Search for the Jew of Nazareth, Downers Grove 21997.
4) Die Ursprünge der New Perspective on Paul liegen bei Krister Stendahl und Ed Parish Sanders in den USA. Der Begriff ›New Perspective on Paul‹ wurde in einem Aufsatz des britischen Neutestamentlers James D. G. Dunn (1988) geprägt, der sich damit seinerseits auch in diese New Perspective einreihte und zeitweise zu deren Sprachrohr wurde.
5) Bedeutend waren die Publikationen der großen, zum Teil monumentalen Kommentare mit teilweise über 1000 Seiten: Jewett, Robert: Romans. A Commentary, Hermeneia, Minneapolis 2007. Eine Kurzfassung dieses Kommentars: ders., Romans. A short Commentary, Minneapolis 2013; Fitzmyer, Joseph A.: Romans, AncB 33, New York 1993; Moo, Douglas J.: The Epistle to the Romans, NIC.NT, Grand Rapids 1996; Keck, Leander E.: Romans, Abingdon New Testament Commentaries, Nashville 2005; Schreiner, Thomas R.: Romans, Baker Exegetical Commentary on the New Testament, Grand Rapids 1998; Witherington III, Ben: Paul’s Letter to the Romans: A Socio-Rhetorical Commentary, Grand Rapids 2003.
Longenecker, Richard N.: Introducing Romans, XXIII–XXVII (s. u. Anm. 7) führt insgesamt 70 neuere, moderne Kommentare zum Römerbrief auf und kann bei dieser Zusammenstellung noch nicht einmal Vollständigkeit behaupten.
6) Levy, Ian Christopher, Krey, Philip D. W., and Thomas Ryan [Transl./Eds.]: The Letter to the Romans. Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2013. X, 329 S. = The Bible in Medieval Tradition. Kart. US$ 34,00. ISBN 978-0-8028-0976-6; Patte, Daniel, and Cristina Grenholm [Eds.]: Modern Interpretations of Romans. Tracking their Hermeneutical/Theological Trajectory. London u. a.: Bloomsbury T & T Clark 2013. 231 S. = Romans through History and Cultures Series, 10. Kart. US$ 42,95. ISBN 978-0-567-21503-1.
7) Longenecker, Richard N.: Introducing Romans. Critical Issues in Paul’s Most Famous Letter. Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2011. XXVII, 490 S. Kart. US$ 40,00. ISBN 978-0-8028-6619-6; Sumney, Jerry L. [Ed.]: Reading Paul’s Letter to the Romans. Atlanta: Society of Biblical Literature 2012. XI, 209 S. = Resources for Biblical Study, 73. Kart. US$ 26,95. ISBN 978-1-58983-717-1.
8) Hultgren, Arland J.: Paul’s Letter to the Romans. A Commentary. Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2011. XXVII, 804 S. Geb. US$ 60,00. ISBN 978-0-8028-2609-1.
9) Aussage der Series Editors Daniel Patte und Cristina Grenholm im vorderen Klappentext.
10) Vgl. dazu meine Besprechung in ThLZ 139 [2014], 188–189.
11) Patte/Grenholm, Modern Interpretations, 1–32.
12) Beker, J. Christiaan: Paul’s Apocalyptic Gospel, Philadelphia 1982, 21987; ders.: Paul the Apostle. The Triumph of God in Life and Thought, Philadelphia 1980, 21984. Eine Kurzfassung dieses Buches liegt in deutscher Übersetzung vor in: Ders.: Der Sieg Gottes. Eine Untersuchung zur Struktur des paulinischen Denkens, SBS 132, Stuttgart 1988. In der SBL-Gruppe ›Pauline Theology‹ wurden Bekers Anregungen verarbeitet, im Blick auf den Römerbrief vor allem in: Johnson, E. Elizabeth, and David M. Hay [Eds.]: Pauline Theology, Vol. III.: Romans, Minneapolis 1995.
13) Mark D. Nanos (*1954, University of Kansas, gibt als seine Religion Reformjudentum an) stellt auf seiner persönlichen Website die These seines literarischen Gesamtwerks voran: »I remain focussed on investigating the implications for Jewish-Christian relations of my reading of Paul as a Torah-observant Jew founding Jewish subgroup communities. These ›churches‹ were attracting some non-Jews, but nevertheless dedicated to practicing and promoting Judaism for non-Jews as well as Jews. In other words, I propose to that we should be investigating Paul’s Judaism in the intra-communal context of other Jewish groups, including other groups of followers of Jesus, which together with Paul’s groups represented a coalition we might describe as Apostolic Judaism.« Vgl. vor allem: Ders., The Mystery of Romans. The Jewish Context of Paul’s Letter, Minneapolis 1996.
14) Vgl. als Überblick: Omerzu, Heike: Paulus als Politiker? Das paulinische Evangelium zwischen Ekklesia und Imperium Romanum, in: Lehnert, Volker A., u. Ulrich Rüsen-Weinhold [Hrsg.]: Logos – Logik – Lyrik. Engagierte exegetische Studien zum biblischen Reden Gottes. Festschrift für Klaus Haacker, ABG 27, Leipzig 2007, 267–287.
15) Schnelle, Udo: Paulus. Leben und Denken, Berlin u. a. 2003; 22014.
16) Wolter, Michael: Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011.
17) Theobald, Michael: Der Römerbrief, EdF 294, Darmstadt 2000.
18) Theobald, Michael: Studien zum Römerbrief, WUNT 136, Tübingen 2001.
19) Schnelle, Udo [Hrsg.]: The Letter to the Romans, BEThL 226, Leuven 2009.
20) Wilk, Florian: Die Bedeutung des Jesajabuches für Paulus, FRLANT 179, Göttingen 1998.
21) Breytenbach, Cilliers: Versöhnung. Eine Studie zur paulinischen Soteriologie, WMANT 60, Neukirchen-Vluyn 1989.
22) Vgl. auch Longenecker, Richard N.: Galatians, WBC 41, Dallas 1990.
23) Vor Richard N. Longenecker hatte bereits Moo, Douglas J.: Encountering the Book of Romans. A Theological Survey, Grand Rapids 2002, eine didaktisch anschaulich gestaltete Einführung (mit Bildmaterial, Fragen, Merksätzen, Schaukästen etc.) geschrieben, die sich allerdings kommentarähnlich stark an der Abfolge des Römerbriefs orientiert.
24) Einen wichtigen Gesprächsbeitrag liefert Otto, Eckart: Kommentieren in den Bibelwissenschaften: Ein ökumenischer Dienst an der Theologie im 21. Jahrhundert, in: Kästle, David, u. Nils Jansen [Hrsg.], in Zusammenarbeit m. Reinhard Achenbach u. Georg Essen: Kommentare in Recht und Religion, Tübingen, 2014, 347–361.