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Ausgabe:

Juli/August/2015

Spalte:

817–819

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Breul, Wolfgang, u. Stefania Salvadori[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Geschlechtlichkeit und Ehe im Pietismus.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014. 294 S. = Edition Pietismustexte, 5. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-374-03062-0.

Rezensent:

Georg Raatz

Bereits Carl Mirbt hatte sich in seinem Artikel »Pietismus« in der RE (31904) dafür ausgesprochen, den Pietismus nicht nur unter engeren kirchen- und theologiegeschichtlichen Gesichtspunkten zu verstehen, sondern auch seinen Einfluss auf Kultur und Sitte in den Blick zu nehmen. Der fünfte Band der Edition Pietismustexte reiht sich mit seinem Leitthema in eine breite Forschungstradition ein, die sich Mirbts Maxime zu eigen gemacht hat. Des Näheren bewegt sich das Thema zwischen protestantischer Sozialethik, Geschlechter- und Körpergeschichte sowie historischer Anthropologie (vgl. 232). Wenngleich jede christentums- resp. protestantismusgeschichtliche Epoche das Ihre zu Ehe und Geschlechtlichkeit zu sagen wusste, so zieht doch der Pietismus aufgrund seines breiten Spektrums von moderaten bis hin zu radikalen libertinen, ehe-sakralisierenden oder auch asketischen Positionen ein besonderes Interesse auf sich. Da seine emphatische Frömmigkeit als Beziehung zu Christus das ganze Leben betraf, drängte sich der pietistischen Reflexion unweigerlich die Notwendigkeit auf, die ehelich-geschlechtlichen Beziehungen entweder ganz abzulehnen oder ins fromme Selbstverständnis zu inkorporieren.
Das Interesse am Thema konnten die Herausgeber in einem an der Gutenberg-Universität Mainz angesiedelten DFG-Projekt un­ter dem Titel »Zum Eheverständnis des Pietismus im Alten Reich« (seit 2007) voll befriedigen, als dessen nicht unbedeutendstes Er­gebnis vorliegender Band gewürdigt werden darf. Er bietet nicht nur dem akademischen Diskurs reiche Quellenfrüchte dar. Vielmehr erschließt er das Thema in einer großen Breite dem je eigenen Studium all jener, die den Pietismus als frömmigkeitsgeschichtliches und kulturelles Phänomen nicht nur aus zweiter Hand, sondern aus den Quellen selber studieren wollen. Was ansonsten mühselig aus alten Büchern zusammengesammelt werden müsste, ist nun hier in einem schlichten wie ansprechenden Band versammelt. Mit dieser (Quellen-)Edition entsprechen die Herausgeber voll und ganz dem Selbstanspruch der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus und der von ihr initiierten und herausgegebenen Edition Pietismustexte (vormals: »Kleine Texte des Pietismus«).
Als Kriterien für die Textauswahl nennen Breul und Salvadori in ihrem 44-seitigen Nachwort allgemein die eingehende und grundsätzliche Beschäftigung pietistischer Autorinnen und Autoren mit Ehe- und Geschlechterfragen sowie die Markanz der Positionen (vgl. 235). Demgemäß haben die Herausgeber nicht nur fünf deutsche (Philipp Jakob Spener, Johann Georg Gichtel, Gottfried Arnold, Ernst Christoph Hochmann von Hochenau, Nikolaus Ludwig von Zinzendorf), sondern auch einen englischen (John Pordage) und zwei französische (Charles Hector de Marsay und Antoinette Bourignon) Vertreter des Pietismus ausgewählt.
Die Auswahl orientiert sich insbesondere an der historiographischen Leitdifferenz von kirchlichem und radikalem Pietismus. Der Schwerpunkt der Herausgeber liegt klar auf Letzterem. Für Ersteren sollen zwei Texte Speners hinreichen (vgl. 235). Während diese Entscheidung aus ideen- bzw. theologiegeschichtlicher Perspektive durchaus einleuchtet, bekommen die radikalpietistischen Texte da­mit jedoch ein gewisses Übergewicht, das quer zu den realgeschichtlichen frömmigkeits- und lebenskulturellen Größenverhältnissen stehen dürfte, da das Gros pietistischer Milieus doch dem gemäßigt-kirchlichen Pietismus zuzurechnen ist. Vielleicht hätte beispielsweise die Aufnahme von August Hermann Franckes Katechismuspredigt zum 6. Gebot ein wenig geholfen, hier die Waage zu halten. So sehr es sich um eine Textedition und eben keine realgeschichtliche Rekonstruktion pietistischer Ehe- und Geschlechterverhältnisse handelt, so sehr hätten doch im Nachwort einige sozialgeschichtliche Hinweise zur Ehe- und Geschlechterkultur in den diversen Pietismusmilieus geholfen, den relativ engen Geltungsbereich der radikalpietistischen Konzepte besser einschätzen zu können.
So unterschiedlich die Positionen im Einzelnen auch sind, so kommen sie doch in einer mehr oder weniger deutlichen Akzentverschiebung gegenüber der reformatorischen Ehetheologie überein, wie an Spener expliziert wird (vgl. 240 f.). In protestantischer Perspektive ist dieser retrospektive Blick überaus erhellend und konturiert die konzeptionelle Transformation. Komplementär dazu hätte sich im Sinne einer prospektiven ideengeschichtlichen Identifikation der historischen Individualität pietistischer Ge­schlechter- und Ehekonzepte im frühneuzeitlichen Gesamtkontext bzw. auch im Sinne einer relativen Gleichzeitigkeit von pietis­tischen und aufklärerischen Denk- und Frömmigkeitskulturen ein Blick auf den Ehe-, Geschlechter- und Familiendiskurs der frühen und reifen Aufklärung(stheologie) angeboten.
Den Herausgebern gelingt es in ihrem sehr instruktiven Nachwort vorzüglich, nicht nur die Differenzen der Positionen zu skizzieren, sondern auch die geistig-theologischen Parallelen wie auch die biographischen Verbindungen der Protagonisten als ein feines Netzwerk persönlicher, literarischer und epistolarer Beziehungen zu illustrieren. Während Spener und Zinzendorf die Textauswahl rahmen und zugleich relativ isoliert dastehen, zieht sich von Por-dage bis de Marsay eine bemerkenswerte und allen gemeinsame Abhängigkeit von Jacob Böhmes Sophienlehre (vor allem sein Androgyniemythos) durch. Dieser integrative Aspekt bringt es mit sich, dass mit Gichtel ein theologischer Literat aufgenommen wird, den die Herausgeber selbst nicht zum Pietismus rechnen (vgl. 245). Angesichts dessen und der ideellen Abhängigkeit von Böhme, die bereits in der älteren Studie von Fritz Tanner zum Ehebegriff des Pietismus dazu Anlass bot, eine Analyse dessen Ehelehre gleichsam als Exposition voranzustellen, hätte die Aufnahme eines prägnanten Textes des Görlitzer Theosophen die Herausgeber ein wenig davon ent-lastet, in ihrem Nachwort recht redundant immer wieder dessen Grundgedanken zu erläutern. Dass die Ehekonzepte jenseits des gemeinsamen Böhmismus feine bis gravierendere Unterschiede markieren, führen Breul und Salvadori überzeugend auf je unterschiedliche ideelle und biographische Faktoren zurück. Hermeneutisch instruktiv bis amüsant ist beispielsweise, dass Gottfried Arnold angesichts seiner eigenen Eheschließung seine vormals streng asketische Auffassung späterhin aufgeweicht hat (vgl. 253 f.).
Die editorischen Kriterien (vgl. 285) werden konsequent durchgehalten; neben den vorbildlich edierten und gut lesbaren Quellentexten bieten die Fußnoten hilfreiche sprachliche Klärungen, Erläuterungen zu genannten Namen, weiterführende Literaturhinweise sowie wertvolle Sachinformationen, ohne jedoch überzuborden. Neben der Bibliographie bietet vor allem das Register der Bibelstellen ein Hilfsmittel zum Vergleich exegetischer Variabilität hinsichtlich identischer biblischer Referenztexte.
Es ist dem Bändchen sehr zu wünschen, im pietismusgeschichtlichen oder historisch-anthropologischen Seminar wie auch im privaten Quellenstudium einen festen Platz einzunehmen.