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Ausgabe:

Juli/August/2015

Spalte:

808–810

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Beyer, Michael, Kohnle, Armin, u. Volker Leppin [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Melanchthon deutsch. Bd. IV: Melanchthon, die Universität und ihre Fakultäten.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2012. 384 S. Geb. EUR 24,00. ISBN 978-3-374-03053-8.

Rezensent:

Malte van Spankeren

Ob jemals eine kritisch edierte Gesamtausgabe der Schriften Me­lanchthons vorgelegt werden wird, möglicherweise sogar als lateinisch-deutsche Publikation, dürfte eine Frage sein, die erst in Generationen beantwortet wird. Umso begrüßenswerter ist es, dass mit der Reihe »Melanchthon deutsch« bis dahin zumindest teilweise Abhilfe verschafft wird. Denn – dies vorweg – die darin bislang publizierten Texte bieten zum Teil einen nuancierten Einblick in Melanchthons Denken.
Der mittlerweile vierte Band der Reihe »Melanchthon deutsch« versammelt schwerpunktmäßig Texte, die sich Melanchthons genuinem Wirkungsort widmen. Die präzisen Übersetzungen der lateinischen Originale, die in der Regel nicht so eng am Text »kleben«, dass dadurch der Lesefluss gestört würde, bieten einen facettenreichen Einblick. Allerdings verwundert es, dass auch Texte aufgenommen wurden, die nicht von Melanchthon stammen. Damit ist das entscheidende Manko dieses Bandes benannt: Auch wenn diese zum Teil lesenswert sind, hätte man, zumal angesichts der Titelwendung »Melanchthon deutsch«, an ihrer Stelle besser weitere Originaltexte Melanchthons aufnehmen sollen. Infolgedessen wird der aufgrund der Titelwendung zu erwartende und im Vorwort auch ausformulierte Anspruch: »Der Band versammelt Texte, aus denen Melanchthons intellektuelle Leistungen für den gesamten universitären Fächerkanon seiner Zeit exemplarisch deutlich werden« (5), nur zum Teil erfüllt. Dass beispielsweise Texte wie die »Vorrede zur Arithmetik des Georg Joachim Rheticus oder Rede über den Nutzen der Arithmetik« (80–90) aufgenommen wurden, bei denen die »Verfasserfrage […] nicht endgültig geklärt« (80) ist, und die inhaltlich wenig gehaltvoll ist, erschließt sich nicht. Auch die »Rede über die Naturwissenschaft« (91–100), die nachweislich nicht von Melanchthon stammt, wie einführend erläutert wird, passt nicht recht in diesen Band, nicht zuletzt auch, weil die hier verwendeten Begriffe wie »Naturwissenschaftler« und »Naturwissenschaft« (97), m. E. nicht glücklich gewählt sind.
Auch wäre es künftig sinnvoll, um ein breiteres Publikum ad­äquater anzusprechen, zu erläutern, ob und inwiefern sich bei einem derart umfangreichen Zeitraum – die Texte stammen aus den Jahren 1518–1558 – Veränderungen zwischen dem »ganz jungen bis zum ganz alten Melanchthon« (6) anhand der ausgewählten Texte nachweisen lassen. Zumindest andeutungsweise könnte man darauf eingehen, denn dies würde den Erkenntniswert und die Kriterien für die Auswahl der Texte auch für diejenigen Leser, die keine Melanchthonexperten sind, verdeutlichen.
Die ausgewählten Texte sind Erst- oder Neuübersetzungen aus dem Lateinischen und in vier Blöcken und damit den vier Fakultäten entsprechend zusammengestellt. Allerdings erschließt sich nicht, ob es innerhalb der Blöcke ein Ordnungsschema gibt, chronologisch ist es zumindest nicht (siehe »Inhalt«).
Lesenswert sind insbesondere die Texte »Lehrers Leiden« (112–129), die »Kurze Ausführung zur erneuerten Kirchenlehre an den Landgrafen von Hessen« (135–147), »Die theologischen Grade« (155–160), »Das Leben Avicennas« (323–332) und, nicht zuletzt aufgrund ihres ungewöhnlichen Themas, die »Rede über die Lunge und den Unterschied zwischen der Luft- und Speiseröhre« (343–352).
Die allen Beiträgen vorangestellten einführenden Erläuterungen sind für den Leser immer dann hilfreich, wenn sie einen inhaltlichen Überblick bieten und Informationen zur Drucklegung enthalten (13 f.) oder in den historischen Kontext der Rede einführen (50). Einige sind allerdings derart kurz, dass man auf sie auch verzichten kann (34).
Die zeitgenössischen Anspielungen innerhalb der Texte werden durch Erläuterungen am Ende eines jeden Textes thematisiert (vorbildlich gleich beim ersten Text, der »Tübinger Rede über die freien Künste« [13–33, hier: 29–33]).
Melanchthons selbstreflexive Aussagen sind mitunter heiterer Lesestoff, wie etwa, wenn er in der »Rede über das Studium der he­bräischen Sprache« von 1549 sein hohes Alter persifliert (54). Manches Mal wäre es besser gewesen, sich bei der Übersetzung für zwei Sätze statt eines längeren zu entscheiden, um nicht Sätze, die neun Zeilen umfassen, zuzulassen (68). Auch wären mitunter kurze Rückverweise zu Namen, die bereits in der Einführung erwähnt wurden, sinnvoll gewesen (»Dalberg« [73]).
Hervorzuheben sind »Lehrers Leiden« (112–129), zumal wegen ihrer Mischung aus Ernsthaftigkeit und Ironie: »[W]elcher Esel hat in irgendeiner Mühle so viel Schlimmes ertragen müssen wie ein ganz gewöhnlicher Erzieher, wenn er den einen und den anderen unterrichtet, bald an Mühe auf sich nimmt, bald an Verdruss erleidet?« (113) Dieser Text ist nicht nur formidabel übersetzt, sondern geradezu eine Bonmot-Sammlung: »Ein Junge hat das Schulalter anscheinend erst dann erreicht, wenn er durch die Nachsicht seiner Familie verdorben ist« (115). Wer sich für den Dichter Melanchthon interessiert, kommt anschließend auf seine Kosten (133 f.), auch wenn sich über die dichterische Qualität wohl trefflich streiten ließe.
Theologiegeschichtlich interessant ist die »Kurze Ausführung zur erneuerten Kirchenlehre an den Landgrafen von Hessen« (135–147) von 1524, in der Melanchthon eine konzentrierte Zusammenfassung wesentlicher in den Loci vorgelegten Gedanken für Philipp von Hessen bietet. Lesenswert ist auch die Rede über »die theologischen Grade« (155–160), auch wegen der Erörterungen über den Wert des theologischen Doktorgrades: »Wir haben die Sitte des Promovierens längst nicht aufgegeben, sie aber nicht oft ausgeübt. Denn auch wir sehen es so, dass man den Titel eines Doktors im schwierigsten Fach nicht unbedacht vielen Personen verleihen sollte. Denn dieser Titel ist ein öffentliches Zeugnis von Gelehrsamkeit und Frömmigkeit, mit dem auf keinen Fall Ungelehrte und Ungeeignete ausgestattet werden dürfen.« (156)
Der mit weitem Abstand ausführlichste Text ist die »Antwort auf die gottlosen Artikel der bayrischen Inquisition« (185–287), der aufgrund seiner über 100 Seiten deutlich aus dem Rahmen der übrigen Texte fällt. Dass dieser Text, der von gleich drei Übersetzern vorbildlich übersetzt worden ist, trotz seiner Länge aufgenommen wurde, ist allein schon wegen der darin enthaltenen Antwort Melanchthons auf die Frage »Ob man die Überzeugung teile, dass die Heiligen, die im Himmel leben, zu verehren und anzurufen sind und dass man von ihnen Hilfe und Beistand erbitten soll?« (249–256) begrüßenswert.
Texte zur juristischen Fakultät, die insbesondere die Effektivität des römischen Rechts thematisieren, runden diese Zusammenstellung ab. Hat man sie von vorne bis hinten durchgelesen, erhält man nicht nur einige neue Einblicke in Melanchthons Denken, sondern wird sich als Leser noch einmal bewusst, wie ertragreich es wäre, neben dem erfolgreichen Editionsprojekt zum Briefwechsel (MBW) künftig für die Schriften Melanchthons das Megaprojekt »Kritische Gesamtausgabe Melanchthon« (KGM) in Angriff zu nehmen.