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Ausgabe:

Juli/August/2015

Spalte:

803–804

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Luz, Ulrich

Titel/Untertitel:

Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2014. XXIX, 579 S. Geb. EUR 39,00. ISBN 978-3-7887-2877-9.

Rezensent:

Christof Landmesser

Diese Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments lädt zu einer »hermeneutische[n] Wanderung« ein (518). Die Landschaft ist vielfältig, zuweilen nicht ganz überschaubar, manches ist bekannt, Neues wird hinzugefügt. Es entsteht ein fabelhafter Gesamteindruck, der den wissenschaftlichen, den religiösen und den gesellschaftspolitischen Horizont des ausdrücklich theologisch orientierten Exegeten Ulrich Luz erkennen lässt. Eine dialogische Hermeneutik will L. vorlegen (V), die für die Wissenschaft und für die Kirche bedeutsam sein soll. Theologische Hermeneutik ist für L. immer auch ein Identitätsdiskurs für Christinnen und Christen. Dies geschieht in elf Kapiteln, die in sich selber lesenswert und ergiebig sind, die aber insgesamt gelesen werden sollten, um Fragen zu klären und neue stellen zu können. Alle Teile dieses Buches sind durch die stets implizite und ausdrücklich gestellte Wahrheitsfrage miteinander verbunden, der auch das abschließende Kapitel gewidmet ist. Aber der Reihe nach.
Im ersten Kapitel stellt L. die Frage nach der Aufgabe einer theologischen Hermeneutik des Neuen Testaments (1–28). Als an der Konzeption des EKK Beteiligter und als herausragender Autor dieser Reihe will L. das hermeneutische Potential der Wirkungsgeschichte erkennbar machen (2). – Für L. ist die Unterscheidung der historisch orientierten Aufgabe des Erklärens von der hermeneutischen Aufgabe des Verstehens grundlegend. Das ist eine bedeutsame Aufspaltung des Verstehens, die zu diskutieren wäre. Gegenstand sind die biblischen Texte. Das Verstehen neutestamentlicher Texte begreift L. als »Spezialfall einer umfassenden Verstehenslehre« (7). Pluralität, nicht Beliebigkeit, eine ganzheitliche Interpretation und der nach L. säkulare Kontext der Gegenwart bestimmen die Blickrichtung. Durchgängig wichtig ist für L. die Alterität der neutestamentlichen Texte (19).
In seinem zweiten Kapitel schließt L. an neuere europäische Hermeneutiken des Neuen Testaments an (29–98). Von den Klassikern Barth, Bultmann und Ebeling, auch von Weder und Theißen, von Thiselton und Esler und vielen anderen lernt L. und stellt weitere Fragen. Hier praktiziert er schon eine »Hermeneutik des offenen Dialogs« (97).
Solch ein Dialog macht das Spannungsverhältnis Von der Klarheit der Schrift zur Vielfalt der Bedeutungen (99–147) offenkundig. In diesem dritten Abschnitt kommen sehr knapp geschichtstheoretische Aspekte in den Blick. Nach dem vermeintlichen »Ende der großen Meta-Erzählungen« (144) bietet L. »›Kleine Meta-Erzählungen‹ von Gott« an (ebd.). – In Kapitel 4 Der Text: ›Gewebe‹ oder ›Mitteilung‹? (149–203) rückt mit dem Text die Größe in den Blick, die der eigentliche Gegenstand ist. Zugleich aber muss mit dem Text der Leser, dann aber auch der Autor bedacht werden. So ergibt sich homogen Kapitel 5 Der Text im Kontext seelischer Wirklichkeit: Psychologische Deutungsansätze (205–261). L. bietet eine spannende Auswahl psychologischer Interpretationsvorschläge, die auf eine »ganzheitliche Rezeption« zielen (207). Er legt zumindest eine Spannung nahe zwischen kognitiven und lehrhaften Prozessen einerseits und andererseits Erfahrung, Emotion und Ganzheitlichkeit.
Im Zentrum steht das 6. Kapitel Der Text als Befreiung zum Leben (263–312). Es findet sich der Kernsatz: »Die Auslegung der Texte zielt auf das Leben.« (263) Das gilt freilich schon für die Texte selbst. L. diskutiert befreiungstheologische und feministische Perspektiven. Die unüberwindbare Kontextualität der Texte und ihrer Interpretationen kommt hier beeindruckend zur Sprache. Die Frage drängt sich freilich auf, ob das neutestamentliche Motiv der Freiheit nicht doch noch weitere relevante Facetten hat.
Ein Gewinn ist die Öffnung auf das Jenseits der Sprache: Interpretation von neutestamentlichen Texten durch Bilder (313–357). L. gewinnt etwa durch sein Gespräch mit der Orthodoxie hermeneutische Fragestellungen, die weiter verfolgt werden sollten.
In die jüngere Philosophiegeschichte taucht L. im 8. Kapitel mit seinem Gespräch mit philosophischen Vätern ein (359–409). Gadamer, Ricœur und Habermas werden vor allem diskutiert. Die Theorie des kommunikativen Handelns hat großen Einfluss auf diese Hermeneutik. Die dort verankerte Konsens-Theorie der Wahrheit kommt dem Motiv des Dialogs und der Frage nach dem Handeln entgegen. Am Ende dieses Kapitels formuliert L. Grundlagen einer Wirkungsgeschichtlichen Hermeneutik (397–409).
Erst in Kapitel 9 nimmt L. ausdrücklich Neutestamentliche Impulse für eine Hermeneutik auf (411–466). Er will die Geschichte Jesu Christi nicht als »Mitte der Schrift« sondern als »Rahmen« der Wahrheit (418) begreifen. Die Motive der Erinnerung an Jesus, die Evangelien als Gattung, aber auch der kanonische Prozess werden thematisiert. – Insofern zum Kanon auch seine Dekanonisierung gehört, nimmt er konsequent in Kapitel 10 Impulse der kirchlichen Tradition auf (467–515). Markante Stationen der Schriftauslegung werden knapp aufgerufen – etwa Origenes, Augustin und Luther. Die Auslegungstradition erschließt nach L. »eine[n] großen Reichtum an Sinn« (511). Wie die »Väter« möchte L. die Bibel wieder als Einheit lesen (512), die freilich nur eine »Einheit in der Vielfalt« sein kann (ebd.).
Das letzte Kapitel lässt das theologische, hermeneutische und gesellschaftspolitische Engagement von L. unter der Überschrift Leitlinien der Wahrheit für die Auslegung neutestamentlicher Texte aufleuchten (517–558). In seiner konsequent subjektiven Perspektive (28) notiert er Pluralität, Offenheit und Freiheit als ihm wichtige Momente einer zudem ganzheitlichen Interpretation des Neuen Testaments. Kriterien für die angemessene Interpretation eines Textes sind die Textintention sowie die Kohärenz mit dem literarischen Ko-Text (519 f.) und die plausible Situierung des Textes in »seinem ursprünglichen historischen Kontext« (520). Wichtig für L. ist, dass der gesamte Kanon, einschließlich des Alten Testaments, den Ko-Text bildet und dass der neue Kontext der Interpretation auch neue Sinn- oder besser Bedeutungspotentiale erschließt. – All das hat eine gewisse Plausibilität, es bleibt aber letztlich doch auch vage. Und so möchte L. statt von »präskriptiv klingende[n]« Kriterien eher metaphorisch von »Leitlinien oder Leitplanken« reden (521).
Ganz in diesem Gefälle bringt L. noch einmal die Wahrheit ins Spiel. Von Habermas übernimmt er als »Leitlinien der Wahrheit« Verständlichkeit, Wahrhaftigkeit, Wahrheit im engeren Sinne, worunter er die Korrespondenz mit der Jesusgeschichte versteht, und zuletzt die Richtigkeit (522). Mit dem Anschluss an Habermas handelt sich L. alle dieser Wahrheitstheorie eigenen Probleme ein. Letztlich findet er keine intersubjektiv gültigen Kriterien für diesen Diskurs. Gerade eine auf das Handeln zielende Hermeneutik bedarf solcher Kriterien, soll der Dialog nicht unendlich werden oder letztlich entweder in eine Handlungsunfähigkeit führen oder doch implizite wissenschaftliche oder kirchliche Machtverhältnisse nur stabilisieren. Eine tatsächliche Öffnung des Dialogs auf den wahrheitstheoretischen Diskurs wäre hier erforderlich.
In jedem Fall aber führt diese theologische Hermeneutik an viele Orte der »Geschichte von Jesus Christus als Gottesgeschichte«, die »als Horizont für die Interpretation von Partikularem« funktioniert (540). Das ist eine gute und das Gespräch öffnende Möglichkeit der Lektüre des Neuen Testaments, die auf ein Verstehen in der Gegenwart und im Raum der Kirche als »grenzenlose[r] Dialoggemeinschaft« (556) ausgerichtet ist.