Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2015

Spalte:

799–802

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Konradt, Matthias, u. Esther Schläpfer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Anthropologie und Ethik im Frühjudentum und im Neuen Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen. Internationales Symposium in Verbindung mit dem Projekt Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti (CJHNT) 17.–20. Mai 2012, Heidelberg.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. XIX, 587 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 322. Lw. EUR 154,00. ISBN 978-3-16-152727-2.

Rezensent:

Oda Wischmeyer

Der Tagungsband dokumentiert das vierte Symposium zum Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti aus dem Jahr 2012 in Heidelberg (seit 2004, vgl. die ausführliche Projektbeschreibung unter http://www.cjh.uni-jena.de); das nächste Treffen wird 2015 in Nottingham stattfinden (»Epiphanies of the Divine in the Septuagint and the New Testament: Mutual Perspectives«). Das Projekt soll zu einem »Corpus von Zeugnissen des Judentums in hellenistisch-römischer Zeit zum Neuen Testament (unter Ausschluss der Qumran-Texte und der rabbinischen Überlieferung)« führen und ist als Kommentierung der einzelnen neutestamentlichen Schriften konzipiert – ähnlich den Kommentarreihen »Papyrolo-gische Kommentare zum Neuen Testament« und »Novum Testamentum Patristicum«, während der Neue Wettstein (http://www. theologie.uni-halle.de/faecher/corpus-hellenisticum/226905_226910/ #anchor226934) wie schon Strack-Billerbeck sich als »Lesebuch« versteht, das den neutestamentlichen Texten relevante Äquivalente aus der griechisch-römischen Literatur zur Verfügung stellt. Der hier zu besprechende Tagungsband ist besonders den sogenannten »Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments« (V) gewidmet, nachdem in den früheren Bänden Philon, Josephus und die hellenistisch-jüdische Alltagskultur behandelt wurden. In welcher Weise die Symposien mit der Kommentierung der einzelnen neutestamentlichen Schriften zusammenhängen, geht aus der Projektbeschreibung nicht hervor.
Ethik im Dreieck hellenistisch-römischer Moralphilosophie und frühjüdischer und frühchristlicher Ethik bildet gegenwärtig ein Zentrum des Interesses der neutestamentlichen Wissenschaft (vgl. die beiden 2013 erschienenen Bände: Jan W. van Henten/ Joseph Verheyden [Hrsg.], Early Christian Ethics in Interaction with Jewish and Greco-Roman Contexts, und Friedrich W. Horn/Ulrich Volp/ Ruben Zimmermann [Hrsg.] in Zusammenarbeit mit Esther Verwold, Ethische Normen des frühen Christentums). Angesichts solcher »Konkurrenz« stellt sich die Frage nach der Notwendigkeit eines weiteren Sammelbandes und seiner Konzeption. Das zwei Seiten umfassende Vorwort gibt äußerst kurze Hinweise. Das Thema aller Beiträge, das sich nach den Herausgebern »von selbst empfahl« (V), ist die Verbindung von Ethik und Anthropologie: Die Ethik und ihre »Affirmationsattraktivität« hänge »ganz wesentlich davon ab, ob diese durch ein entsprechendes Menschenbild getragen und unterstützt werden oder nicht« (VI). Damit bringt der Band eine vielversprechende Differenzierung des bloßen Ethik-Themas. Nun ist Anthropologie weder ein zentrales noch ein eindeutiges Untersuchungsfeld für die neutestamentliche Wissenschaft und hätte anders als »Ethik« begrifflich modelliert werden können. Die Herausgeber verzichten darauf und benutzen als zentralen Steuerungsbegriff das »Menschenbild«, einen gängigen Be­griff aus der philosophiegeschichtlich geprägten Anthropologie, der aber längst auch von Biologie, Soziologie, Wirtschaftswissenschaft und Kulturwissenschaften weiterentwickelt worden ist. Es scheint um einen vortheoretischen Suchbegriff zu gehen, der danach fragt, was Texte über Aspekte menschlichen Wesens, Handelns und Verhaltens aussagen. Gefragt wird in den Paarvorträgen nach: 1. imago Dei-Motivik, 2. Gewalt, 3. Sünde und Tora, 4. Sexualität, 5. Reichtum, 6. Barmherzigkeit und 7. »den letzten Dingen«, d. h. Tod-Auferstehung-Gericht, also nach verschiedenen klassischen, viel verhandelten, teilweise theologisch grundlegenden Themen frühjüdisch-frühchristlicher Anthropologie und Ethik. Die Auswahlkriterien werden nicht erläutert. So sind beispielsweise die Bereiche familiärer und sozialer Beziehungen und Umgangsformen ebenso ausgespart wie die Körper- und Emotionenproblematik und die Konstruktion von Person, Identität und Ich – Themen, die im kulturwissenschaftlich-anthropologischen Kontext wichtig geworden sind und auch schon ihren Eingang in die Judaistik gefunden haben. Man hätte sie gern in einem repräsentativen Band wie diesem gefunden und eine entsprechende Einführung gelesen.
John M. G. Barclay eröffnet den Band und setzt souverän die Agenda: »Constructing a Dialogue. 4 Ezra and Paul on the Mercy of God« (3–22). Barcley unterzieht die großartigen Dialoge des 4Esra zwischen Esra und Uriel, deren theologisches Niveau das der meis­ten frühjüdischen Schriften übertrifft, einer sorgfältigen Analyse und setzt sie dann in Bezug zu Paulus. Paulus bestehe darauf, »that God’s mercy is not just his penultimate word, to be followed by a definitive act of justice that precludes mercy on the sinful, but is his ultimate and definitive word: the favour that God has shown in Christ is not just a necessary tactic to preserve the sinful, but is itself the foundation of a ›newness of life‹ that ushers its beneficiaries already in the age to come« (17). Barclay bleibt aber nicht bei diesem Ergebnis stehen, sondern fragt weiter: Was würde der Verfasser des 4. Esrabuches Paulus antworten? Er würde beharren auf »God’s eternal and immutable standard of justice« (17). Und in der Tat hat Paulus auch im Römerbrief das Problem des Verhältnisses von Gnade bzw. Barmherzigkeit und Liebe zur bestehenbleibenden Forderung nach Gerechtigkeit nicht gelöst. Zu Recht weist Barclay auf die Kontroverse zwischen Augustinus und Pelagius hin. Ab­schließend betont Barclay die Wichtigkeit des Unternehmens, das Neue Testament in die innerjüdischen Debatten hineinzustellen – statt diese nur als »Hintergrund« heranzuziehen, wie ich hinzufüge.
Christfried Böttrich vergleicht die Konzepte von »Menschenwürde – Menschenpflichten. Perspektiven universaler Ethik in den Henochschriften und im lukanischen Doppelwerk« (23–75, sehr ausführliche Bibliographie). Die gewählten Parameter Menschenwürde und Menschenpflichten erweisen sich als sperrig und führen nicht so nahe an die Texte heran wie der später im Band begegnende Imago Dei-Begriff, den Böttrich dann selbst verwendet (36) und mit dem Herrlichkeitsbegriff verbindet.
Leider wird Barclays Agenda in den folgenden Beiträgen nicht auf dem konzeptionellen Niveau, das er vorgegeben hat, bearbeitet. So kommt es auch hier wie bei allen Sammelbänden, die nicht konsequent an einem expliziten Forschungsproblem arbeiten, sondern bekannte Textwelten interpretieren, auf die Einzelbeiträge an: Wie schon in den vorliegenden Bänden bilden die »Paarvorträge«, die nur in sehr begrenzter Weise – wenn überhaupt – aufeinander Be­zug nehmen, das Rückgrat der Anthologie. Im Folgenden werden aus Raumgründen nur einige Beiträge herausgehoben werden, die der Rezensentin besonders ertragreich zu sein scheinen.
Ad 1: George H. van Kooten schreibt über »Man as God’s Spiritual or Physical Image?« (99–139) und bezieht sich ausführlich auf hellenistisch-römische Philosophie, Philon und andere frühjüdische Texte sowie auf Paulus. Er kommt zu einem klaren Ergebnis: Es gibt ein physisch-material geprägtes Verständnis des Menschen als imago Dei, das mit »a numinous ethics« zusammengeht. Es beruht auf »the correspondence between God and man in their bodily shape« (136). – Karl-Wilhelm Niebuhr behandelt »Menschenbild, Gottesverständnis und Ethik. Zwei paulinische Argumentationen (Röm 1,18–2,29; 8,1–30)« (139–161).
Ad 2: Das Thema »Gewalt« wird von Loren Stuckenbruck (»The Myth of Rebellious Angels: Ethics and Theological Anthropology«, 163–176) und Eckart Reinmuth (»Befreiung und Gewalt. Perspektiven theologischer Anthropologie im Hebräerbrief«, 177–217) untersucht. Reinmuth bezieht sich ausführlich auf frühjüdische Akeda-Interpretationen und erschließt die Gewalt- und Opferthematik des Hebräerbriefes als anthropologische Dimensionen.
Ad 3: Hindy Najman setzt sich in ihrer Studie zu »Sin and Torah in 4 Ezra« (201–217) ausführlich mit der Frage auseinander, wie 4Esra zu interpretieren sei. Die Esraapokalypse wurde vor der Trennung von rabbinischem Judentum und altkirchlichem Christentum geschrieben und wird von Najman dementsprechend interpretiert. Sie votiert im Anschluss an H. Gunkel, M. Stone und K. M. Hogan dafür, 4Esra als »unified text« (212) zu lesen, der nicht quellenkritisch analysiert werden muss, sondern als »an argument or series of encounters be-tween several voices« (211) verstanden werden kann. Besonders lesenswert sind Najmans hermeneutisch-methodische Eingangsüberlegungen zum Umgang mit 4Esra. – Die thematisch entsprechenden Paulustexte behandelt Jens Herzer: »›Worin es schwach war durch das Fleisch‹ (Röm 8,3). Gesetz und Sünde im Römerbrief – oder: das Ringen des Paulus um eine neue Identität« (219–247).
Ad 4: Das Thema Sexualität wird von Matthias Konradt: »›Fliehet die Unzucht!‹ (TestRub 5,5). Sexualethische Perspektiven in den Testamenten der zwölf Patriarchen« (249–281) und Friedrich Wilhelm Horn untersucht. – Horn diskutiert in seinem bemerkenswert klaren und nüchternen Beitrag: »Nicht wie die Heiden! Sexualethische Tabuzonen und ihre Bewertungen durch Paulus« (283–307) den »Befund, dass Paulus innerhalb der Sexualethik auch gegenüber den Heidenchristen einem jüdischen Ethos folgt, dieses aber in anderen lebensweltlichen Bereichen im Blick auf Heidenchristen rigoros zurückweist« (303). Horn findet bei Paulus »antipagane Stereotype«, die »in die Apologetik der jüdisch-hellenistischen Synagoge« zurückführen. Als Hintergrund benennt Horn die jüdische »Voraussetzung, dass sexuelles Begehren und erst recht sexuelles Fehlverhalten ein Einfallstor für dämonische Mächte sind, deren Wirksamkeit über den Einzelnen auf die gesamte Gemeinde übergreift« (304). Hier wäre ein weiterführender Beitrag zur Körperkonstruktion sinnvoll gewesen: Weshalb übernimmt Paulus bestimmte Aspekte jüdischer antipaganer Sexualmoral mit ihren anthropologischen Implikationen, nicht aber die Speisegebote?
Ad 5: Dankenswerterweise bringt Michael Tilly Pseudo-Phokylides bei dem Thema Besitz ins Spiel. Seine kleine Studie zu »Besitzethik und Menschenbild bei Pseudo-Phokylides« (309–325) trifft genau das Thema des Sammelbandes. Tilly charakterisiert den Leser – und damit implizit auch den pseudonymen Autor – als »freien, begüterten, gebildeten, erwachsenen und verantwortlichen männlichen Angehörigen der städtischen Oberschicht« wohl in Alexandria im 1. Jh. n. Chr. (311). In diesem sozialen und ökonomischen Kontext entwickelt der Autor eine moderate Verantwortungsethik, die an die »hellenistische Mehrheitskultur« anschlussfähig ist (323). – Roland Deines legt einen ausführlichen, sehr lesenswerten Essay mit umfassender Bibliographie zum Thema »God or Mammon. The Danger of Wealth in the Jesus Tradition and in the Epistle of James« vor, der die Basis einer Monographie sein könnte (327–385). Deines differenziert das binäre »Arm-Reich«-Modell, das gern in der neutestamentlichen Sozialgeschichte verwendet wird. Er stellt klar, dass die Paränese Jesu (später aufgenommen in Jak 2) nicht an die sehr Reichen adressiert ist, sondern an die Wohlhabenden unter denen, die ihm nachfolgen, die von ihrem Besitz abgeben können. Reichtum ist nicht per se schlecht, wohl aber gefährlich, weil er die Menschen in seinen Bann zieht und von Gott abbringt. Die Jesustradition und der Jakobusbrief haben nicht diejenigen im Blick, die Hilfe brauchen, sondern jene, die denen, die in Not sind, helfen können – so das pointierte Fazit von Deines.
Ad 6: Die frühjüdische Basis für die Stellung Jesu und der Jesustradition zum Reichtum zeigt Markus Witte in einer sorgfältigen Analyse auf: »Begründungen der Barmherzigkeit gegenüber den Bedürftigen in jüdischen Weisheitsschriften aus hellenistisch-römischer Zeit« (387–412). Die Antwort auf die seit der hellenistischen Herrschaft zunehmende soziale Ungleichheit ist die Barmherzigkeit, die ausführlich in ihren sozialen, materiellen und psychologischen Dimensionen entwickelt wird. – Der eher dokumentierenden Darstellung Wittes stellt Gerd Theißen den theoretischen Zugriff auf das Thema gegenüber: »Gemeindestrukturen und Hilfsmotivationen. Wie haben urchristliche Gemeinden zum Helfen motiviert?« (413–440). Im Fadenkreuz der divergierenden Urteile von Henrik Bolkestein und Paul Veyne über das Verhältnis des orientalischen Barmherzigkeitsethos und des griechisch-römischen Euergetismus entwickelt Theißen noch einmal seine Konstruktion der frühchristlichen Sozialgeschichte.
Ad 7: Zwei Beiträge wenden sich den »letzten Dingen« zu, wobei der Bezug zur Thematik des Bandes teilweise eher locker bleibt. Matthias Henzes Beitrag gilt der Messiasvorstellung: »›Then the Messiah will begin to be revealed‹. Resurrection and the Apocalyptic Drama in 1 Corinthians 15 and Second Baruch 29–30, 49–51« (441–462). – Samuel Vollenweider untersucht »Auferstehung als Verwandlung. Die paulinische Eschatologie von 1Kor 15 im Vergleich mit der syrischen Baruchapokalypse (2Bar)« (462–490).
Abschließend ist auf den schönen Beitrag von René Bloch: »Take Your Time. Conversion, Confidence and Tranquility in Joseph and Aseneth« (77–96) hinzuweisen. Bloch plädiert dafür, JosAs als »a very early example of an ancient novel« zu lesen (93), und versteht das kleine Werk als »an entertaining love story« (95). Überflüssig zu sagen, dass es dafür keine neutestamentliche Parallele gibt. – Todd D. Still ergänzt den Beitrag von René Bloch durch eine kleine, aber sorgfältige Studie zu »Turning to God from Idols. Conversion in Joseph and Aseneth and 1 Thessalonians« (493–514). Still vergleicht die Konversionsvorstellung beider Texte anhand von sieben Kriterien. – Stefan Krauter steuert eine interessante Skizze zum Thema »Der Mensch ist, was er isst. Ernährung als zentrale Dimension des Menschseins in den Adamviten« bei (515–527). Hier hätte man gern einen korrespondierenden bzw. alternativen neutestamentlichen Beitrag gelesen (Mk 7,14–23; Röm 14,14; 1Kor 8,8).