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Ausgabe:

Juni/2015

Spalte:

703-705

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schaefer, Frieder

Titel/Untertitel:

Diakonie und Verkündigung. Zu ihrer Verhältnisbestimmung in christlichen Hilfswerken.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014. 528 S. = Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg, 52. Kart. EUR 58,00. ISBN 978-3-374-03766-7.

Rezensent:

Reinhard Turre

Mit diesem Buch legt Frieder Schaefer seine Dissertation zur Erlangung des Dr. phil. an der Fakultät für Verhaltens- und Empirische Kulturwissenschaften der Heidelberger Universität vor. Die wissenschaftliche Begleitung erfuhr er durch Johannes Eurich und Heinz Schmidt vom Diakoniewissenschaftlichen Institut an der Universität Heidelberg. Es ist bemerkenswert, dass an einer Fakultät für Verhaltens- und Empirische Kulturwissenschaften eine Arbeit angenommen worden ist, die das Verhältnis christlicher Hilfswerke zur Verkündigung untersucht. S. konzentriert sich auf die drei in der Entwicklungsarbeit tätigen evangelischen Hilfswerke Brot für die Welt (BfW), Vereinigte Evangelische Mission (VEM) und World Vision Deutschland (WV).
Nach Klärung der Vor-Fragen hat die Arbeit sieben größere Teile und einen Exkurs zu den soziologischen Aspekten der Leitkategorie Gemeinschaft. S. setzt mit der Beobachtung ein, dass dem Verhältnis von Verkündigung und Diakonie schon seit Wichern große Beachtung geschenkt worden ist (40–162): Auch wo es heute gilt, den besonderen Charakter evangelischer Hilfswerkarbeit neu zu beschreiben, wird die Verbindung von Zeugnis und Dienst neu vorgetragen (20 ff.). Auf die katholischen Hilfswerke geht er nicht ein, obwohl im Titel von der Arbeit christlicher Hilfswerke die Rede ist.
In einer Analyse stellt er das Verhältnis von Diakonie und Verkündigung in den drei von ihm gründlich untersuchten evangelischen Hilfswerken vor (163–234). Er begründet biblisch, systematisch und praktisch, warum er die Gemeinschaftsbildung als Leitkategorie für Diakonie und Verkündigung ansieht (235–308). Das Thema verdient aus einem doppelten Grund Beachtung: Es ist noch nie eigens in Bezug auf die in der Entwicklungsarbeit tätigen Hilfswerke untersucht worden. Es ist interessant, dass für sie auch gilt, was für die Diakonie in den Einrichtungen aus dem 19. Jh. gesagt werden kann: Sie sind aus evangelischen Gemeinschaften heraus entstanden, die sich um ihres speziellen Dienstes willen gebildet haben. In ihnen wurde bestimmt, welche Aktivität nach Inhalt und Umfang entwickelt und getan werden sollte. Man steht dagegen heute vor der Tatsache, dass die Aktivitäten eine solche Eigendynamik entwickelt haben, so dass diese bestimmen, in welchem Umfang man sich die Pflege der Gemeinschaft noch leisten kann.
S. zeigt für alle drei speziell untersuchten Hilfswerke, dass sich die sie ursprünglich tragenden Gemeinschaften wegen ihrer internationalen Aufgabenstellung in ihrem Selbstverständnis erweitern mussten. Mehr und mehr wurden die Hilfeempfänger mit in die Erstellung ihrer Konzeptionen einbezogen (231 ff.). Dies hatte natürlich Rückwirkungen auf das Verständnis von Gemeinschaft bei den Trägern christlicher Entwicklungsarbeit. Sie mussten auch ihr Verhältnis von Verkündigung und Dienst neu bestimmen. Es galt nicht mehr der Vorrang der Verkündigung, sondern von der Art des Dienstes sollte auf den Inhalt der Verkündigung geschlossen werden (so bei BfW und WV). Oder Diakonie und Verkündigung sollen als gleichrangige Aufträge angesehen werden (so bei VEM). S. möchte die Gemeinschaft als verbindende Leitkategorie begreifen. Er hat dabei anders als Bonhoeffer lediglich die soziologischen Aspekte im Sinn. Die Gemeinschaft wird bei ihm durch die dia-konisch Handelnden konstituiert und versteht sich nicht zuerst als Teilhabe an dem, was Jesus Christus in Wort und Sakrament ge­währt. Aus diesem Grund legt er in einem Exkurs soziologische Aspekte der Gemeinschaftsbildung dar (309–330). Dabei stellt er mit biblischer Nüchternheit fest, dass auch jede christlich bestimmte Gemeinschaft ein corpus permixtum ist (309). Damit hängt die heute abnehmende Bindekraft von Gemeinschaften zusammen, der auch mit noch so durchdachten Interaktionen und organisatorischen Maßnahmen kaum zu begegnen ist.
S. zeigt auf, dass dies in den evangelikalen und charismatischen Gruppierungen durchaus mit Schwierigkeiten verbunden war (222 ff.). Auf diese nehme besonders VEM Rücksicht, während BfW und WV die Verkündigung nicht mit gleicher Priorität wie die Diakonie behandeln (233 f.). Er geht dem Stellenwert von Gemeinschaft im biblischen Zeugnis nach und bedenkt dessen Aufnahme in ekklesiologischen Entwürfen bekannter Theologen des 20. Jh.s (245–308).
Eigenartig spät und etwas unvermittelt bietet S. erst im 6. Kapitel eine allgemeine biblische Begründung von Diakonie (332–349) und verbindet diese mit der Grundlegung der Diakonie bei verschiedenen Autoren (350–361). Der Kontext christlicher Entwicklungsarbeit in der allgemeinen Entwicklungspolitik wird zu knapp beschrieben (362–367). Auch wäre angesichts des Themas die Mandatsaufteilung zwischen Missions- und Entwicklungswer-ken einer eingehenderen Würdigung wert gewesen (381–383). Was schon im 4. Kapitel ausgeführt worden ist, dass Gemeinschaft als Leitkategorie für Diakonie anzusehen ist, wird hier als Fazit wiederholt (387 f.).
Im 7. Kapitel wird endlich die Verkündigung mit der Gemeinschaft als Leitkategorie verbunden (389–454). Hier folgen der biblischen Erkundung erst praktisch-theologische Hinweise und dann systematische Erörterungen. Ein besonderes Augenmerk richtet S. vor allem auf WV und das dortige Verständnis von Evangelisation (437–446). Er bedauert, dass überhaupt dem Zusammenhang von Verkündigung und Diakonie in der heutigen homiletischen De­batte mit Ausnahme von Eberhard Winkler zu wenig Beachtung geschenkt wird. Es würde der Veranschaulichung der Verkündigung dienlich sein, wenn ihr diakonischer Kontext stärker beachtet würde. In Aufnahme der Denkschrift der EKD zum Entwick lungsdienst betont S. »die Gemeinschaftsbildung als inhaltliche Füllung der vielbeschworenen Einheit von Diakonie und Verkündigung« (450 ff.). Es ist bedauerlich, dass er dabei nicht auf den breiten Strom schon aus der Geschichte der Diakonie besonders seit der Zeit des Pietismus und in den Bruder- und Mutterhäusern aus dem 19. Jh. zu sprechen kommt.
Im letzten Kapitel werden die Erkenntnisse zur Gemeinschaftsbildung auf die Beurteilung der drei untersuchten Hilfswerke angewandt. Er gibt zu, dass die Aspekte Verkündigung, Diakonie und Gemeinschaft in der praktischen Arbeit »dynamisch fließend auf natürliche Weise miteinander verbunden sind« (456). Er be­nennt vier Kriterien für die Gemeinschaft in den Hilfswerken: Gemeinschaft mit Gott und soziale Gemeinschaft, Gemeinschaft in Wechselseitigkeit von Gebern und Empfängern und mehrdimensionale Gemeinschaft.
Er bescheinigt VEM die stärkste Konturierung durch die Verbindung der Gemeinschaft mit Gott und der sozialen Gemeinschaft. Bei WV könne nur durch die Betonung des Zeugnisses als Tat- und Wortzeugnis auf die Verbindung beider geschlossen werden. BfW stünde dem Verkündigungsdienst »sehr reserviert bzw. sogar ablehnend« gegenüber. Es darf bezweifelt werden, ob dies in der Verallgemeinerung so zutrifft. Alle drei Hilfswerke hätten sich der heute bestimmenden Marktsituation unterzuordnen (460). Alle drei bemühen sich heute, auf die Wechselseitigkeit von Gebern und Empfängern (461) sowie auf die Wahrnehmung aller Dimensionen des Menschseins zu achten (462). Hier gibt S. selbst zu, dass seine in der gesamten Arbeit häufiger gebrauchte strenge Aufteilung in ausschließlich diakonische und ausschließlich verkündigende Tä­tigkeit eigentlich nicht möglich ist (ebd.). Er ahnt offenbar, dass ein nur auf die Hilfe in der Not konzentriertes Diakonieverständnis erweitert werden muss. »Diakonie als Gemeinschaft« der Geber und Empfänger ist dafür durchaus eine Hilfe, wenn sie sicherstellt, dass eben beide Seiten Empfangende sind. Auch eine gemeinsame Beauftragung durch beide Seiten würde der geistlichen Profilierung dienlich sein.
Hilfestellung für die geistliche Profilierung erwartet nach S.s Beobachtung VEM von den sie tragenden Kirchen, BfW von den Partnerkirchen und WV von der Dienstgemeinschaft der Mitarbeitenden. Alle drei Werke wollen »heilende Gemeinschaft« praktizieren. Auf die schon langjährige Debatte im Ökumenischen Rat der Kirchen über dieses Thema geht er nicht ein.
S. möchte mit der Leitkategorie Gemeinschaft die Trennungen von Mission, Diakonie und Verkündigung überwinden (465 f.). Er gibt sich als ein Befürworter einer absichtsvollen Diakonie im Handlungsfeld christlicher Entwicklungshilfe zu erkennen. Diese Veröffentlichung macht Mut, dies in der Praxis der drei untersuchten Hilfswerke und darüber hinaus immer wieder zu überprüfen.