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Ausgabe:

Juni/2015

Spalte:

666-668

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Rittner, Reinhard

Titel/Untertitel:

Christen – Pastoren – Bischöfe in der evangelischen Kirche Oldenburgs im 20. Jahrhundert. Vorträge und Aufsätze.

Verlag:

Oldenburg: Isensee Verlag 2013. 309 S. m. Abb. = Oldenburger Forschungen. Neue Folge, 28. Kart. EUR 19,80. ISBN 978-3-89995-998-7.

Rezensent:

Konrad Hammann

Der Autor dieses Buches, Reinhard Rittner, war viele Jahre als Pfarrer für theologische Arbeit im Evangelisch-lutherischen Oberkirchenrat Oldenburgs tätig. Mit der vorliegenden Sammlung von Vorträgen und Aufsätzen ergänzt und vertieft R. den Beitrag über die evangelische Kirche im 20. Jh., den er zu der von Rolf Schäfer herausgegebenen, 2005 in zweiter Auflage erschienenen »Oldenburgischen Kirchengeschichte« beigesteuert hat. Die in gut zwei Jahrzehnten entstandenen Einzelstudien sind in dem anzuzeigenden Sammelband in der chronologischen Reihenfolge ihres ersten Erscheinens angeordnet.
Der Titel des Buches könnte den Eindruck erwecken, als ginge es in ihm vornehmlich um personenbezogene Zugänge zur oldenburgischen Kirchengeschichte im 20. Jh. Dies ist durchaus auch der Fall. Jedoch ist R., wie schon seine einleitenden Bemerkungen zu den Gegenständen des Bandes zeigen (13–18), mit den metho-dischen Standards der kirchlichen Zeitgeschichtsschreibung bes­tens vertraut, so dass er mit dem personenorientierten Ansatz – je nach Thema – auch institutionen-, mentalitäts- oder sozialgeschichtliche Perspektiven zu verbinden versteht.
Die Wahrnehmung der Phänomene unter unterschiedlichen Gesichtspunkten bewährt sich exemplarisch an der instruktiven Aufarbeitung des Umgangs mit dem Suizid in der oldenburgischen Kirche zwischen 1860 und 1932. Deutlich wird neben einem problematischen Dogmatismus in dieser Frage doch durchaus das Bemühen vieler, dem kirchlichen Verkündigungsauftrag und zugleich auch humanen, sozialen und seelsorgerlichen Belangen gerecht zu werden (69–95). Auf die große Theologiegeschichte hin öffnet R. die territoriale Kirchengeschichte sodann mit zwei Beiträgen zu Rudolf Bultmann. Erinnert wird einmal das Verhältnis des großen Marburger Theologen zu seinem Schüler Hans Roth, das gewisser maßen den äußeren Entstehungskontext von Bultmanns bedeutendem Vortrag bzw. Aufsatz »Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?« bildete (97–119). Vergegenwärtigt werden zum anderen Bultmanns lebenslange Beziehungen zu seiner oldenburgischen Heimat anhand seiner Freundschaft mit dem jüdischen Schulkameraden Leonhard Frank aus Westerstede, wieder des Austausches mit Hans Roth, des Entmythologisierungsprogramms, des Streites um die konfessionelle Ausrichtung des Religionsunterrichts nach 1945 sowie der 2002 in Oldenburg aufgestellten Bultmann-Büste von Michael Mohns (279–300).
Zwei Beiträge weisen über sich hinaus auf die Zeit des Dritten Reiches. R. zeigt in einer Studie zur Tätigkeit des späteren Reichsbischofs Ludwig Müller als Marinepfarrer und -oberpfarrer in Wilhelmshaven 1914–1926 detailliert auf, wie dessen nationalreligiöses Denken maßgeblich durch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs geprägt war (215–234). Eine kirchenkundliche Miniatur von »Religion, Kirche und Gesellschaft in der Stadt Oldenburg um 1930« bietet einen instruktiven Einblick in die erkennbar divergierenden Positionen, die man in der Kirchengemeinde Oldenburg bezüglich der wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Zeit sowie der Krise der Weimarer Parteiendemokratie bezog (145–166).
Ein Schwerpunkt des ganzen Bandes liegt auf dem »Kirchenkampf« in Oldenburg. Den in der Kirchlichen Zeitgeschichte wiederholt problematisierten Begriff des Kirchenkampfes verwendet R., wohl wissend um die mit ihm verbundenen Schwierigkeiten, aus pragmatischen Gründen und unter Verweis auf die lokalen Gegebenheiten weiterhin (15 f.235 f.). Exemplarisch nimmt er zu­nächst die Auseinandersetzungen in Delmenhorst in den Blick, deren Opfer der Pastor Paul Schipper wurde – der deutschchristlich dominierte Oberkirchenrat versetzte ihn 1939 in den einstweiligen Ruhestand (19–51). In Rastede spiegelte sich der die oldenburgische Landeskirche auch sonst beherrschende Gegensatz zwischen den Deutschen Christen und der Bekenntnisgemeinde paradigmatisch wider. Freilich verliefen die Fronten hier wie anderenorts längst nicht so eindeutig, wie spätere Kirchenkampflegenden es glauben machen wollten (235–254). Dies wird in spezifischer Weise auch an dem Juristen Wilhelm Flor deutlich, der nebenamtlich Mitglied des Oldenburger Oberkirchenrats war und später als Reichsgerichtsrat von Leipzig aus die Bekennende Kirche, nach deren Spaltung 1936 die gemäßigte lutherische Richtung, durch juristische Gutachten unterstützte. Dieses öffentliche kirchliche Engagement wurde Flor 1937 durch das Reichsjustizministerium untersagt (121–144). Ein weiteres Porträt zeichnet R. von dem Pfarrer und Kirchenrat Hermann Buck, der mit seinem kompromisslosen Einsatz für das lutherische Bekenntnis und die Unabhängigkeit der kirchlichen Arbeit in Oldenburg und auf Wangerooge unter den restriktiven Bedingungen der NS-Diktatur ein Beispiel der Zivilcourage gab (167–194).
Die innerkirchliche Aufarbeitung der Erfahrungen aus dem Dritten Reich, wie sie sich nach 1945 vollzog, weist manche Ambivalenzen auf, was R. anhand einiger Zwangsversetzungen von be-las­teten Pfarrern in der Oldenburger Kirche aufzeigt (53–67). Die Frage, welche Richtung die Oldenburgische Landeskirche in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg einschlagen sollte, war im Übrigen lange offen. Personal- und Verfassungsfragen, theologische Orientierung und das Verhältnis der Kirche zur Gesellschaft wurden kontrovers diskutiert. Der Oldenburger »Bischofsstreit« 1952/53, zu dem R. hoffentlich noch in naher Zukunft eine geplante mo-nographische Untersuchung vorlegen wird, machte dies sichtbar (195–214).
Der Aufsatzband ist reich bebildert. Abbildungen der behandelten Akteure und etlicher Kirchengebäude sowie die Wiedergabe von wichtigen Dokumenten illustrieren die vorgelegten Texte eindrucksvoll. Dies gilt zumal für die von Achim Knöfel mitverfasste Studie über das Wirken des Kirchenmalers Hermann Oetken, der in zahlreichen Oldenburger Kirchengemeinden seine künstlerischen Spuren hinterlassen hat (255–278). R. hat es verstanden, die lokale und territoriale Kirchengeschichte Oldenburgs im 20. Jh. im Lich te der allgemeinen historischen, kirchlichen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen aufzuhellen. Wo er die rekonstruierten Befunde kommentiert und beurteilt, tut er dies mit Umsicht und dem durchgängigen Bemühen um historische Gerechtigkeit. Der von Rolf Schäfer mit einem Geleitwort versehene Band ist überdies sehr leserfreundlich eingerichtet. Ein Abkürzungsverzeichnis, Nachweise der Abbildungen und der Orte der Erstveröffentlichung der Aufsätze sowie Register der Namen, Orte und Sachen erschließen das Buch in vorbildlicher Weise.