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Ausgabe:

Juni/2015

Spalte:

646-648

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Malcolm, Matthew R.

Titel/Untertitel:

Paul and the Rhetoric of Reversal in 1 Corinthians. The Impact of Paul’s Gospel on his Macro-Rhetoric.

Verlag:

Cambridge: Cambridge University Press 2013. 305 S. = Society for New Testament Studies Monograph Series, 155. Geb. US$ 99,00. ISBN 978-1-107-03209-5.

Rezensent:

Dominik Wolff

»Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.« Wovon Maria in ihrem berühmten Lobgesang singt (Lk 1,52 f.), stellt einen theologischen Grundzug der Bibel beider Testamente dar. Ebendiesen Grundzug eines gleichsam transzendierten Tun-Ergehen-Zusammenhangs, diese »theology of reversal« (Theologie der Umkehrung) sieht Matthew R. Malcolm in der überarbeiteten Fassung seiner in Nottingham eingereichten Doktorarbeit als grundlegendes Motiv für die paulinische Theologie und Verkündigung im 1. Korintherbrief des Apostels Paulus an. Dieses (Paulus’ Römerbrief der Länge nach ebenbürtige) Schreiben hat aufgrund seiner Themenvielfalt zu vielfältigen Erklärungsversuchen hinsichtlich Aufbau und Komposition Anlass gegeben. Während eine Seite der Forschenden im 1Kor eine wie auch immer geartete Kompilation mehrerer Brief(teil)e sieht, verteidigt die andere Seite die literarische Einheit des Briefes unter Anführung diverser Ordnungsschemata oder Leitmotive. M. ist dieser zweiten Forschungsrichtung zuzuordnen. Sein Beitrag besteht dabei darin, den Aufbau des 1Kor aufgrund einer theologischen Idee, ebenjener theology of reversal, die gerade im Christus-Geschehen zu einem Höhepunkt gekommen ist, zu erklären.
M.s Untersuchung gliedert sich in fünf Kapitel. Im ersten Kapitel erläutert er das Kerygma der Umkehrung. Er bestimmt dabei die Vorstellung einer göttlichen Umkehrung des menschlichen Geschicks als ein zentrales jüdisch-theologisches Motiv, das sich sowohl in der Schrift als auch in der außerkanonischen Literatur sehr oft und in verschiedenen Funktionen (etwa als liturgisches Muster oder als historisches Interpretament) finden lässt. Paulus stand dieses Motiv demnach bereits vor seiner Berufung zum Völkerapostel zur Verfügung. Gerade aufgrund seiner Berufung wurde es ihm aber zu einem wesentlichen Erklärungsschlüssel für das Christus-Ereignis, also die Tatsache, dass der von verblendeten, gottlosen Menschen gedemütigte und gekreuzigte, aber eben Gott treue Messias in der Auferstehung erhöht wurde. Darüber hinaus aber erkennt M. in dem Motiv der göttlichen Umkehrung einen kerygmatischen Topos, der sich in 1Kor nicht nur inhaltlich, sondern auch makro-strukturell niederschlägt. Dies lasse sich eben am Fortschreiten des Briefes von der Verkündigung des Gekreuzigten (Kapitel 1–4) bis zur Verkündigung der Auferstehung (Kapitel 15) ablesen. Die ethisch orientierten Zwischenkapitel 5–14 basieren dabei gerade auf diesem Kerygma, dass sich der Gott treue Mensch eben besonders, d. h. kreuzesgemäß, verhält und dereinst entsprechend belohnt wird.
Mit dem zweiten Kapitel festigt M. das Fundament seiner Ar­beit, indem er für die Einheit und Kohärenz des 1Kor argumentiert. Dabei löst er sich von der gegenwärtig beliebten Idee, die Briefe des Apostels nach dem Muster griechisch-römischer Rhetorik zu gliedern, auch wenn er Paulus durchaus rhetorisches Vermögen auf der textlichen Mikro-Ebene zugesteht. Innerhalb der thematisch eigenständigen Unterabschnitte des 1Kor (Kapitel 5–7; 8–11,1; 11,2–34; 12–14) erkennt M. beständig das bei Paulus beliebte ABA’-Aufbauschema. In einem kompakten, aber überzeugenden Durchgang durch den Brief (90–111) diskutiert M. sämtliche sich angeblich wi­dersprechenden Stellen und widerlegt die These einer literarischen Uneinheitlichkeit des 1Kor.
Das dritte Kapitel befasst sich mit 1Kor 1–4. M. wendet sich dabei allerdings zunächst Johannes Chrysostomos und dessen Homilien über den 1Kor zu, in welchen er die früheste kerygmatische Lektüre des Briefes sieht. Johannes erkennt vor allem drei Probleme im damaligen Korinth, mit denen sich der Apostel in pastoraler Weise auseinandersetzt: prahlerischer Stolz, gegenwärtiger Reichtum, menschliche Autonomie. Johannes’ Verständnis des Briefes wird im Folgenden auch grundlegend für M.s Sicht auf den 1Kor. Gerade das letzte Problem um einen menschlichen Autonomieanspruch der Korinther (gegenüber der kreuzesförmigen Theonomie) sei entscheidend für Paulus’ Argumentation. Somit stelle 1Kor 1,18 (und nicht 1,10, wie oft angenommen) ihren Ausgangspunkt dar. In allen Argumentationsteilen (1,10–2,5; 2,6–3,4; 3,5–4,5; 4,6–21) scheine dieser Gegensatz von Menschlichem und Göttlichem immer wieder auf.
Im vierten Kapitel behandelt M. 1Kor 5–14, in denen es hauptsächlich um Verhaltensfragen geht. Anstatt von einem von den Korinthern (schriftlich und mündlich) vorgegebenen Fragenkatalog auszugehen, den der Apostel nun gleichsam abarbeitet, unternimmt M. es zu zeigen, dass der Briefaufbau allein auf Paulus’ Ke­rygma zurückzuführen ist. Generell sei beim Apostel in ethischen Fragen ein Aufbaumuster nachzuweisen, demzufolge zu­nächst die Leiber der Gläubigen in den Blick rücken (bezüglich der sexuellen Unmoral, Unreinheit, Gier) und daraufhin der Leib Christi (bezüglich des gemeindlichen Umgangs). Wie in der sonstigen paulinischen Literatur, etwa den Lasterkatalogen, ganz üblich macht der Apostel in 1Kor 5–7 den Anfang mit Fragen zur πορνεία (»Hurerei«) und den Leibern der Gläubigen, um dann in Kapitel 8–14 auf das gemeindliche und liebevolle Miteinander als Leib Christi einzugehen. Als religionsgeschichtlichen Hintergrund für dieses Muster sieht M. weniger die popularphilosophisch beeinflusste hellenis­tisch-jüdische Ethik an als vielmehr das christuszentrierte Kerygma, das die in Paulus vorhandenen theologischen Ansichten bei seiner Berufung zum Völkerapostel neu geprägt haben.
Abschließend (Kapitel 5) wendet sich M. schließlich 1Kor 15 zu, worin die Auferstehung behandelt wird. Die Frage, warum dieses für den Christusglauben so grundlegende Thema erst zum Briefschluss behandelt wird, beantwortet M. eben aufgrund der rhe-torischen Makrostruktur des Briefes: Nach dem Aufruf an die Gemeinde zu Beginn in 1Kor 1–4, den Weg des Kreuzes einzuschlagen, schließe sich nun mit dem Aufruf, die allgemeine Auferstehung zu erwarten, gleichsam der Bogen. Den Problemhintergrund in Korinth für Paulus’ Antwort sieht M. grundsätzlich in einer Überbetonung der Körperlichkeit und einer abwertenden Sicht auf die Toten. Die anderen in der Forschung diskutierten Vorschläge – Ablehnung einer Vorstellung der postmortalen Existenz bzw. einer körperlichen Auferstehungsvorstellung, überrealisierte Eschatologie – ordnet er (unter gelegentlichen Korrekturen) dieser generellen korinthischen Einstellung bei. – Eine knappe Zusammenfassung samt drei Indizes rundet die Arbeit ab.
M. stellt sich mit seiner Arbeit deutlich auf die Seite des Apos-tels. Gerade wegen seines pastoralen Ansatzes, den er mit Johannes Chrysostomus in der Auslegung des 1Kor teilt, erhält Paulus im Gegenüber zu den Korinthern eine Übergewichtung, die mir je­doch den Korinthern selbst nicht immer gerecht zu werden scheint. Die von Paulus abweichenden korinthischen Ansichten versteht M. als »unwittingly« (156) bzw. »not consciously« (236) geschehen. Ein Weiterdenken dahingehend, dass die Korinther dem Apostel ebenbürtig gegenüberstehen, könnte vielleicht so manche Frage bezüglich der eigentlichen Korrespondenz zu klären helfen, dann aber auch einen Beitrag zum pastoralen Handeln in der Gegenwart (und nicht bloß Einsichten zu Paulus’ und Johannes Chrysostomos’ pastoral-paternalistischen Überzeugungen) liefern.
Zudem mag nicht jeder Gedanke M.s überzeugen. Dass die Korinther etwa eine abwertende Sicht auf die Toten zeigten, er­scheint doch gerade angesichts der (auch von M. zugestandenen) korinthischen Sitte der sogenannten »Vikariatstaufe« als nicht plausibel. Gleichermaßen überzeugt mich etwa auch der Vorschlag, für 1Kor 11,2–34 das paulinische Aufbauschema ABA’ an-zunehmen, nicht. Paulus war sicherlich ein so selbstbewusster Briefsteller, dass er sich – bei allen überzeugenden Argumenten für einen makrorhetorisch planvollen Briefaufbau – wohl nicht in allen Einzelheiten einem strukturalen Systemzwang unterworfen hat.
Dem generell guten Eindruck der Arbeit tut das aber keinen Abbruch. Insgesamt bietet M.s Werk einen interessanten und wichtigen Beitrag im vielstimmigen Chor der Ausleger.