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Ausgabe:

Juni/2015

Spalte:

642-644

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Childs, Brevard S.

Titel/Untertitel:

The Church’s Guide for Reading Paul. The Canonical Shaping of the Pauline Corpus.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2008. XI, 276 S. Kart. US$ 28,00. ISBN 978-0-8028-6278-5.

Rezensent:

Hermann von Lips

Der Band »The Church’s Guide for Reading Paul« ist das letzte der zahlreichen Werke des 2007 verstorbenen amerikanischen Alttestamentlers Brevard Childs. Er war führend im Bereich der »kanonischen Exegese«, deren Hermeneutik vom Endstadium der Bibel ausgeht, also dem biblischen Kanon. Die vorliegende Schrift gilt der »kanonischen Gestalt« (canonical shaping) des Corpus Paulinum.
Am Anfang (Kapitel 1, 1–27) steht die Suche nach der Paulinischen Theologie (»Search for Paul’s Theology«). Zunächst stellt Ch. fest, dass bei der Paulusforschung das Gros der Neutestamentler an den Schriften des »historischen Paulus« interessiert ist, dagegen der Kanon als spätere, nachbiblische Entwicklung gesehen wird – ohne exegetische oder hermeneutische Bedeutung. Dem will Ch. mit seiner Monographie die Frage nach den exegetischen und hermeneutischen Implikationen des Kanons für die einzelnen Schriften entgegenstellen, um sie im Kontext der Kirche zu verstehen. Wichtig ist zunächst die Beobachtung, dass die Paulusbriefe am frühesten nicht als Einzelbriefe, sondern als Corpus bezeugt werden. Dabei steht der Römerbrief voran, was er nicht nur seiner Länge, sondern auch seiner theologischen Bedeutung verdankt und ihm eine besondere kanonische Funktion gibt. Hermeneutisch ist maßgeblich, dass das paulinische Corpus verstanden wird aus der Sicht der Leser und Hörer und damit die kanonische Perspektive in Kraft tritt, die die paulinischen Briefe in universaler Geltung sehen lässt. Im Anschluss an Martin Kähler diskutiert Ch. die unterschiedliche Zugangsweise zur Schrift aus historisch-kritischer und konfessionell-kanonischer Perspektive. Als wichtig wird jeweils der Hinter grund eines Textes gesehen, ob sprachlich, kommunikativ oder situativ. Für die kanonische Exegese zentral sind die Kriterien der Kanonizität bzw. der Kanonbildung, wobei unterschieden werden muss zwischen späteren retrospektiven Reflexionen und der frühen Anerkennung als autoritative Schrift. In Abgrenzung gegen Karl-Heinz Ohligs einzelne theologische Begründungen übernimmt Ch. die »traditionellen systematischen Kategorien« von Apostolizität, Katholizität (mit Irenäus werden Wort und Tradition untrennbar verbunden gesehen) und Orthodoxie als Kriterien für die Kanonizität. Das Konzept des neutestamentlichen Kanons entstammt letztlich der Christologie. Dabei ist der Kanon kein »fixed deposit«, sondern ein »dynamic vehicle« (26), durch das der Herr mittels des Heiligen Geistes sein Volk führt und lehrt.
Bevor er sein eigenes Anliegen thematisiert, untersucht er »al­ternative proposals« für das Interpretationsproblem der paulinischen Theologie (Kapitel 2, 29–63). Er führt dabei ein in die Kon-zepte von Ulrich Luz (Wirkungsgeschichte), Richard B. Hays (Intertextual Reading of Scripture), Frances Young (Ethics of Reading Paul), Luke T. Johnson (Exegesis and Hermeneutics) und Wayne A. Meeks (Social Context of Pauline Theology).
Wesentlich ist der Abschnitt über die Gestalt des Corpus Paulinum (»Shaping of the Pauline Corpus«; Kapitel 3, 65–78). Dem Konzept der kanonischen Exegese entsprechend spielt eine entscheidende Rolle, dass am Beginn der Römerbrief steht, das Ende die Pastoralbriefe bilden. Am Beispiel der Rechtfertigungslehre kann die Wirkungsgeschichte des Römerbriefes gesehen werden, in­dem die Pastoralbriefe in Tit 3,5 und 2Tim 1,9 eine Resonanz der programmatischen Texte Röm 1,16 f. und Röm 3,21–26 zeigen. Die Pastoralbriefe gelten allgemein als letzte Hinzufügung im wachsenden Corpus Paulinum. Im Verhältnis zum Römerbrief, der grundlegend seine Theologie formuliert, reflektieren die Pastoralbriefe das letzte Zeugnis des leidenden Apostels. Das Bild des Paulus zeigt den Wechsel »from an active to a passive Paul« (72). Er wird das Modell, an dem die »gesunde Lehre« gemessen wird (73). Das wachsende paulinische Corpus entwickelt die Lehre der heiligen Schrift (2Tim 3,16–17). Damit prägen die Pastoralbriefe Gestalt und Ziel der Briefsammlung. Römerbrief und Pastoralbriefe bilden den kanonischen Kontext für die Interpretation des paulinischen Corpus. Dabei geht es um den Dialog zwischen dem paulinischen Einzelbrief und der kanonischen Gestalt der paulinischen Tradition. Der kanonische Zugang zu den Paulusbriefen hängt dabei ab vom Gebrauch der kritisch-exegetischen Schritte.
Im 4. Kapitel (79–218) werden etliche Texte als »exegetical probes« vorgeführt: Zunächst werden charakteristische Züge des paulinischen Apostolats entfaltet. Ch. geht hier die für das Verständnis des Apostolats markanten Briefe entlang, nämlich Gal 1–2, 1Kor, 2Kor, Kol und Eph sowie dann die Pastoralbriefe mit den jeweiligen Schwerpunkten. Maßgeblich für die kanonische Sicht sind die Pastoralbriefe als geschichtlicher Endpunkt des paulinischen Corpus. Von den unstrittigen Paulusbriefen führe im Verständnis des apostolischen Amts eine »strenge Kontinuität« (96) zu den Pastoralbriefen. Paulus wird jetzt als »Modell des christlichen Glaubens« und als »Wahrer der gesunden Lehre« gesehen (96). Seine »Gelegenheitsbriefe« werden gesammelt und zu einem Teil der Heiligen Schriften der Kirche.
Weitere Themen, die in kanonischer Weise durch die Paulusbriefe hindurch analysiert und interpretiert werden, sind: Abrahams Glaube in Gal 3 und Röm 4 und damit Aspekte der Rechtfertigung (besonders im Philipperbrief und den Pastoralbriefen); das Leben im Geist, von Röm 8 und Gal 5 ausgehend (dazu 2Kor 3–4); Gemeinschaftsgaben und Gottesdienst (1Kor 12–14 und Röm 12; dazu Eph 4); die Ordnung der Kirche und ihre Ämter (mit Diskussion der Pastoralbriefe); die Schwachen und die Starken (1Kor 8 und Röm 14–15; schließlich Israel und die Kirche (Röm 9–11); die Schluss­perspektive gilt der apokalyptischen Gestalt der Paulustheologie.
Entsprechend der Abfolge der Schriften bilden den kanonischen Rahmen für das Corpus Paulinum die Apostelgeschichte und der Hebräerbrief (Kapitel 5, 219–252). Als eines der Motive für die kanonische Stellung des Hebräerbriefs am Ende des Corpus Paulinum wird die in ihm thematisierte Verbindung zwischen Altem und Neuem Testament gesehen. Die Apostelgeschichte andererseits ist ein »consensus document« (231), das die drei Corpora Evangelien, Paulusbriefe und Katholische Briefe verbindet und geschrieben wurde, um das gemeinsame Zeugnis von Aposteln und Paulus zu sichern.
Ein abschließendes Kapitel formuliert Aspekte für ein kanonisches Lesen des Corpus Paulinum (Kapitel 6, 253–259). Wichtig für die gesamte Konzeption von Ch. ist dabei, »the Canonical Context as an Interpretative Guide« (254) zu sehen. Hier wird nochmals thematisiert, dass der Römerbrief als einführender Brief maßgebliche Themen der früheren Briefe aufgreift, während die abschließenden Pastoralbriefe den Paulusbriefen eine normative Rolle geben als »truthful model« für die »gesunde kirchliche Lehre« im kommenden nachapostolischen Zeitalter (254).
Insgesamt liegt ein lohnendes Buch vor, das das Vermächtnis der kanonischen Auslegung von Ch. an einem konkreten Textkomplex exemplifiziert. Indizes von Namen, Sachen und Schriftbezügen runden das Buch ab.