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Ausgabe:

Juni/2015

Spalte:

639-642

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bates, Matthew W.

Titel/Untertitel:

The Hermeneutics of the Apostolic Proc-lamation. The Center of Paul’s Method of Scriptural Interpretation.

Verlag:

Waco: Baylor University Press 2012. 400 S. Geb. US$ 69,95. ISBN 978-1-60258328-3.

Rezensent:

Dieter Sänger

Die Frage nach den methodischen, hermeneutischen und nicht zuletzt theologischen Implikationen des paulinischen Schriftverständnisses hat in den vergangenen Jahrzehnten wieder verstärkt das Interesse der neutestamentlichen Forschung auf sich gezogen. Exemplarisch genannt seien nur die thematisch einschlägigen Untersuchungen von R. Hays, F. Watson, Ch. Stanley, S. Moyise, J. R. Wagner und D.-A. Koch. Sie haben je für sich und auf unterschiedliche Weise impulsgebend gewirkt. Mit seiner Studie, die der University of Notre Dame 2010 als Ph. D. Dissertation vorlag (Be­treuer: D. Aune) und für den Druck überarbeitet wurde, klinkt sich B. in diesen Diskurs ein.
Gleich in der Einleitung (1–8) formuliert B. seine These, die er auf sechs Kapitel verteilt entfaltet: »Paul received, utilized, and ex­tended an apostolic, kerygmatic narrative tradition centered on key events in the Christ story as his primary interpretative lens« (2, vgl. 56). Den bisherigen Versuchen »to articulate a general theory of Pauline hermeneutics« (4) bescheinigt er eine implizite Vorurteilsstruktur. Sie resultiere aus der nicht weiter problematisierten Grundannahme, Paulus’ Umgang mit der Schrift reflektiere zeitgenössische jüdische Praxis und orientiere sich primär oder gar ausschließlich an ihren Auslegungsprinzipien. Diese Priorisierung des als gegeben vorausgesetzten jüdischen Referenzrahmens habe zur Folge, dass frühchristliche Quellen – neutestamentliche ebenso wie altkirchliche – als »an essential historical-critical and liter-ary matrix for understanding Paul« (53) von vornherein außer Betracht blieben. Notwendig sei deshalb »a new model« (4), das die spätere Rezeption der paulinischen Texte konzeptionell zu integrieren vermag. Andernfalls werde der in diesem Rezeptionsprozess auf der semantischen Ebene sich spiegelnde Dialog zwischen »text«, »coeval-« bzw. »co-text« und »subsequent text« (vgl. 53 f.) schon im operativen Vorfeld hermeneutisch marginalisiert. Das von ihm entwickelte »neue Modell« charakterisiert B. als »a model centered on the apostolic proclamation« (4).
Den inhaltlichen Ausführungen vorgeschaltet ist das erste Kapitel »Toward the Center of Pauline Hermeneutics« (9–57), in dem forschungsgeschichtlich relevante Entwürfe vorgestellt und methodenkritisch evaluiert werden. Fazit: Aufgrund der diagnostizierten strukturellen Defizite, die mehr oder weniger für alle kennzeichnend sind, lässt sich von keinem sagen, er habe das angestrebte Ziel einer »holistic explanation« (4) erreicht. Dies macht B. auch gegen F. Watson und R. Hays, seine eigentlichen Gesprächspartner, geltend. Unterschätze jener die Bedeutung des Christusgeschehens als »an extrascriptural point of reference for Paul« (41), operiere dieser mit einem zu eng gefassten Intertextualitätsbegriff. Weil er sich auf die zitierten bzw. alludierten LXX-Texte (»prior-accuring texts« [51]) beschränke und nur sie als Intertexte berücksichtige, verkenne er den heuristischen Wert der »subsequent interpretations of the OT« (52) für einen sachgemäßen Zugang zum paulinischen Schriftverständnis. Seinen eigenen methodischen Ansatz, mit dem er sich von Hays betont abgrenzt, bezeichnet B. im Rückgriff auf J. Kristevas poststrukturalistisches Intertextualitätskonzept als »diachron­ic intertextuality« (53). Er rechnet also nicht nur damit, dass sich potentiell alle Texte ungeachtet ihres chronologischen Settings aufeinander beziehen können, sondern differenziert auch im Un­terschied zu Kristeva zwischen genetischen und intertextuell nicht bestimmbaren Einflussspuren.
Im folgenden Kapitel »Paul and the Hermeneutics of the Apos­tolic Kerygma« (59–108) macht sich B. daran, seine eingangs prä-sentierte These in einem ersten Schritt exegetisch zu fundieren. Leitend sind für ihn die Abschnitte 1Kor 15,3–11 und Röm 1,1–6. Gefragt wird nach dem hermeneutischen Zentrum der paulinischen Aussagen, das Christusgeschehen entspreche der Schrift und sei in ihr im Voraus angekündigt. Die Ergebnisse seien kurz notiert.
Aus den beiden vorpaulinischen Traditionsstücken (»protocreeds«) 1Kor 15,3b–5 und Röm 1,(2)3–4 synthetisiert B. eine christozentrisch grundierte und im Kernbestand relativ stabile »master kerygmatic narrative« (101). Sie umfasst acht Elemente, die bis auf zwei explizit an die Schrift zurückgebunden sind: 1. Präexistenz, 2. davidische Herkunft Jesu, 3. gestorben für unsere Sünden, 4. Grablegung, 5. Aufenthalt im Reich der Toten [implizit], 6. Auferstehung am 3. Tag, 7. Ersterscheinungen, 8. eingesetzt zum Sohn Gottes in Macht. Paulus fügt der ihm überlieferten »protocreedal narrative« (60) vier weitere Elemente hinzu (spätere Erscheinungen, seine Christophanie, Verkündigungsauftrag, Sendung zu den Völkern [vgl. 1Kor 15,6–11; Röm 1,5]) »to locate himself, his coworkers, his audience, and his mission in relationship to these protocreeds« (104). Für diese erweiterte »master narrative« (107) ist kennzeichnend, dass sie sowohl » kerygmatic« als auch »apostolic in nature« (60) ist. Dadurch, dass Paulus ihr die Funktion einer »fundamental hermeneutical guidance« (57) beimisst, gewinnt die in der Schrift verankerte »basic christocentric narrative tradition« (ebd.) kriteriologische Bedeutung für sein Apostolats- und Schriftverständnis.
Das dritte Kapitel »Figuration and the Divine Economy« (109–182) untersucht, ob der Einsatz von Substitutions-, Stil- und Redefiguren, die in der antiken Rhetorik als Überzeugungsmittel einen ho­hen Stellenwert besitzen, zu erkennen gibt, wie Paulus die Schrift interpretiert und argumentativ einsetzt. Als Probe aufs Exempel dienen Röm 5,14; 1Kor 10,1–11, 2Kor 3,1–4,6 und Gal 4,21–31. Aus der Analyse ergibt sich für B., dass der Apostel mit den elokutionären Stilprinzipien vertraut ist und ihr wirkungsästhetisches Potential zu nutzen weiß. Vor allem aber spiegelt die Verwendung literarischer Tropen, insbesondere der metaphorische Gebrauch typolo-gischer und allegorischer Sprachformen, ein ganzheitliches Verständnis der göttlichen Heilsökonomie, in der »external past event« und »inscripturated textual event« (118) eine Einheit bilden. Im Lichte des Christusgeschehens verlieren die Texte der Schrift ihre historische Abständigkeit. Sie sprechen direkt in die Gegenwart hinein und werden so für die Deutung gegenwärtiger Ereignisse hermeneutisch produktiv. Wiederum ist die »primary engine driv­ing interpretation […] the apostolic kerygma« (181).
Im vierten Kapitel »Introducing Prosopological Exegesis« (183–221) stellt B. ein, wie er meint, zu Unrecht in Vergessenheit gera-tenes texthermeneutisches Verfahren vor, das sich nicht nur bei Paulus, sondern auch in Teilen der paganen, jüdischen und nicht zuletzt nachpaulinischen frühchristlichen Literatur finde.
Prosopologische bzw. prosopographische Exegese, jedenfalls wie B. sie versteht, setzt ein Dreifaches voraus: 1. Der Autor des zu interpretierenden Textes identifiziert verschiedene Personen oder Charaktere (prosopa) als Sprecher oder Adressaten im Prätext, selbst wenn aus ihm nicht unmittelbar hervorgeht, dass die Betreffenden auch wirklich gemeint sind (183.218). 2. Die Vagheit prozessierende Unsicherheit der Identifizierung löst der Interpret auf »by assigning a suitable prosopon to the speaker or the addressee (or both) to explain the text« (217). 3. Für den interpretierenden Autor ist sein Vorlagetext inspiriert oder göttlich autorisiert.
Das Spektrum der literarischen Zeugnisse, in denen B. auf mehr oder weniger deutlich ausgeprägte Spuren der »reading technique« (184) prosopologischer Exegese stößt, reicht von den Werken eines Homer, Hesiod und Plato über den allegorischen Kommentar Philos von Alexandrien, das Markusevangelium (12,35–37) und den Hebräerbrief (1,5–13) bis zu Justins 1. Apologie. Besonders hier kommt das Konzept der »diachronic intertextuality« zum Tragen und ins Spiel.
Das umfangreichste Kapitel ist der »Prosopological Exegesis in Paul’s Letters« (223–328) gewidmet. Exploriert werden alle Stellen in den Homologumena, die den genannten Kriterien entsprechen und aufgrund ihrer markierten Zitate als Exempla prosopolo-gischer Exegese möglicherweise in Betracht kommen: Röm 10,6–8 (Dtn 9,4; 30,12–14).16 (Jes 53,1a).19–21 (Dtn 32,21; Jes 65,1 f.); 11,9 f. (Ps 68,23 f.LXX); 14,11 (Jes 49,18; 45,23); 15,3 (Ps 68,10bLXX).9 (Ps 17,50LXX); 2Kor 4,13 (Ps 115,1aLXX). Aus unterschiedlichen Gründen scheidet B. Röm 10,19–21 und 14,11 aus (269–275.288 f.). In allen anderen Fällen wird er fündig. Als Sprecher figuriert in Röm 10,6–8 der aus Glauben Gerechte, indirekt auch eine ihn herausfordernde Person. Dreimal ist es der erhöhte Christus (Röm 15,3.9; 2Kor 4,13), jeweils mit Gott als Adressaten. In Röm 10,16b identifiziert Paulus die Apostel als Sprecher, angeredet wird Gott. Soweit möglich, werden Referenzbezüge zu frühchristlichen/altkirchlichen Schriften hergestellt, die mit Hilfe prosopologischer Exegese die je gegenwärtige Bedeutung alttestamentlicher Texte in christologischer Perspek-tive hermeneutisch erschließen, vielleicht auch unabhängig von Paulus. Durch die ihr selbst entnommene Lektüreanweisung setzt für ihn die Schrift beides ins Recht: die das Heilsgeschehen zur Sprache bringende »christocentric narrative« und »his own apos-tol­ic mission« (328).
Im Schlusskapitel »The Implications of Kerygmatic Hermeneutics« (329–355) fasst B. die erzielten Ergebnisse noch einmal zusammen, bringt sie ins Gespräch mit den im forschungsgeschichtlichen Überblick skizzierten Positionen und geht abschließend auf einige Aspekte seiner Studie ein, die in ökumenischer Hinsicht von Bedeutung sein können.
B. beansprucht nicht, in Sachen paulinische Schrifthermeneutik auch nur das vorletzte Wort gesprochen zu haben. Ihm ist durchaus bewusst, dass er nur einen Teil der potentiell in Frage kommenden Texte in die Untersuchung mit einbezogen hat. Angesichts der relativ schmalen Materialbasis bin ich skeptisch, ob sein als neu deklariertes Modell sich exegetisch und hermeneutisch als tragfähig erweist, zumal die Auswahlkriterien oft unklar bleiben. Problematisch erscheint vor allem, dass B. darauf verzichtet, sein Konzept der »diachronic intertextuality« – eine der tragenden Säulen des vorgestellten Alternativentwurfs – im kritischen Dialog mit konkurrierenden Intertextualitätskonzepten zu plausibilisieren. Wie er sich innerhalb der Theoriediskussion, die ganz unterschiedliche Formen und Definitionen von Intertextualität kennt, positioniert, erfährt man nicht. Zudem wüsste man gerne, ob bei der Identifizierung von Intertextualität konkreter Texte primär eine produktions- oder rezeptionsorientierte Perspektive leitend ist. Auch hier bleibt B. eine Antwort schuldig. Dass schließlich die aus 1Kor 15,3b–5 und Röm 1,(2)3–4 synthetisierte »master kerygmatic narrative« eine, wenngleich hypothetisch konstruierte, hermeneutisch belastbare Größe darstellt, darf man mit Gründen bezweifeln. Den Texten lässt sich gerade nicht entnehmen, alle Elemente, die B. der »protocreedal narrative« zurechnet, entsprächen der Schrift und seien an sie zurückgebunden. Es mutet deshalb, gelinde gesagt, merkwürdig an, wenn er trotz dieses eindeutigen Sachverhalts beide Abschnitte zur Gänze in die Rubrik »Paul’s own statements about the Scriptures« (108) einordnet.
Kritik ist aber nur das eine. Insgesamt handelt es sich um eine Arbeit, die mutig und entschlossen sich anschickt, jenseits bislang dominierender Deutungsmuster einen eigenständigen Entwurf vorzulegen, der das theologische Koordinatensystem des paulinischen Schriftverständnisses in methodischer und hermeneutischer Hinsicht neu justiert. Sicher wird und muss die kontrovers geführte Diskussion über eines der zentralen Anliegen des Apostels, die Schrift im Blick auf seine Evangeliumsverkündigung hermeneutisch zur Geltung zu bringen, weitergehen. B. darf sich zugutehalten, einen substantiellen Beitrag zum Fortgang der Diskussion geleistet zu haben – für ein Erstlingswerk keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Dem Vf. ist zu wünschen, dass seine Studie die ihr gebührende (kritische) Aufmerksamkeit nicht nur in der Paulusforschung findet.