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Ausgabe:

Juli/August/1999

Spalte:

783 f

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Otto, Rüdiger

Titel/Untertitel:

Studien zur Spinozarezeption in Deutschland im 18. Jahrhundert.

Verlag:

Frankfurt/M.-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien: Lang 1994. 464 S. gr. 8 = Europäische Hochschulschriften. Reihe XXIII, 451. ISBN 3-631-43579-7.

Rezensent:

Matthias Wolfes

Die Spinoza-Forschung erlebt weltweit, und zwar nicht zuletzt auch in Deutschland, seit etwa fünfzehn Jahren einen Aufschwung, der noch in den späten siebziger Jahren nicht für möglich gehalten worden wäre. Jetzt hat Rüdiger Otto, derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Leibniz-Editionsstelle der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, eine voluminöse Untersuchung zur frühen deutschsprachigen Spinoza-Rezeption vorgelegt und damit einen weiteren wichtigen Forschungsbeitrag geleistet.

Im Mittelpunkt der Arbeit, die 1992 in Leipzig als theologische Dissertation angenommen worden ist, steht der Begriff des "Spinozismus". Seiner historischen Klärung dient vor allem der erste Teil der Untersuchung. Anhand knapper, aber gehaltvoller Ausführungen zur frühen kritischen Reaktion auf Spinozas revolutionäre Ethik-Konzeption (15-58) sowie über instruktive biographische Studien zu Tzschirnhaus, Stosch, Wachter, Edelmann und anderen (58-171) gelingt O. erstmals eine zulängliche Präzisierung des Sachverhaltes. Der zweite Teil der Arbeit (172-358) thematisiert den Streit der 1780er Jahre, als diverse pantheistische Philosopheme unter dem Namen Spinozas bei zahlreichen Aufklärungsdenkern eine erstaunliche Konjunktur erlebten. Den Schluß der Studie bildet ein informativer, für sich der Lektüre empfohlener Exkurs über die Bedeutung des "Theologisch-Politischen Traktats" für die historisch-kritische Bibelforschung. Sehr wertvoll ist auch eine Literaturübersicht (362-395), die auf mehr als dreißig Seiten die frühe Spinoza-Diskussion bis 1800 dokumentiert.

O. kann aufgrund einer souveränen Quellenbeherrschung nachweisen, daß der von Friedrich Heinrich Jacobi 1785 mit seinen Briefen an Mendelssohn "Über die Lehre des Spinoza" ausgelöste Streit keineswegs den Beginn der Spinoza-Rezeption in Deutschland darstellt. Er ist vielmehr selbst bereits das Ergebnis einer mehr als hundertjährigen Präsenz des holländischen Philosophen. Schon Heinrich Heine hatte in seiner Schrift "Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland" von 1835 auf diesen Umstand hingewiesen. An einigen gut gewählten Beispielen belegt O., mit welchem Recht Heine die zentralen Themen der hiesigen philosophisch-theologischen Debatten auf Anregungen Spinozas zurückführt. Die heftigen Auseinandersetzungen um den Vorwurf des Spinozismus zeichnet er anhand des Konfliktes um die Philosophie Christian Wolffs nach. Indem O. diesen Streit in einen größeren theologiegeschichtlichen Kontext einbezieht, kann er plausibel machen, inwiefern gerade der hier erhobene Spinozismus-Vorwurf zu einer weithin undifferenzierten und polemischen Einschätzung Spinozas innerhalb der protestantischen Theologie während der zweiten Hälfte des 18. Jh.s geführt hat. Die Empörung, die etwa Schleiermacher mit seiner Spinoza-freundlichen Haltung in den "Reden" von 1799 ausgelöst hat, wird erst vor diesem wirkungsgeschichtlichen Hintergrund verständlich.

Ausgesprochen lehrreich sind schließlich auch die Ausführungen zur Spinoza-Renaissance im Gefolge des Streites zwischen Jacobi und Mendelssohn. Auf die Bedeutung der Spinoza-Briefe Jacobis für die Entwicklung der idealistischen Religionsphilosophie hatte seinerzeit schon Hermann Timm hingewiesen. Jetzt läßt sich dieser Zusammenhang am Beispiel der Positionen Wizenmanns, Heydenreichs, Herders und besonders August Wilhelm Rehbergs im Detail rekonstruieren. Wenn es O. schließlich, wie er selbst eingesteht, auch nur ansatzweise gelungen sein mag, eine Erklärung dafür zu liefern, daß es in den 1780er Jahren überhaupt zu einer Spinoza-Renaissance kommen konnte, so stellen seine Untersuchungen zu den philosophie- und theologiegeschichtlichen Auswirkungen dieser zeitgleich von verschiedenen Seiten ausgehenden Bewegung doch einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der geistesgeschichtlichen Entwicklung auf dem Wege zur Klassik dar.