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Ausgabe:

Mai/2015

Spalte:

565–566

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Slenczka, Notger [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Was sind legitime außenpolitische Interessen? Unverfügbare Voraussetzungen des säkularen Staates. Umgang mit Schuld in der Öffentlichkeit. Werner-Reihlen-Vorlesungen 2010 bis 2012.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2013. 236 S. = Beihefte Berliner Theologische Zeitschrift, 29–31 (2011–2013). Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-374-03414-7.

Rezensent:

Tobias Schieder

Der Sammelband vereint Beiträge zu jährlich an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin veranstalteten Werner-Reihlen-Vorlesungen aus den Jahren 2010 bis 2012. Dieses als mehrtägiges Symposion abgehaltene Format widmet sich sozialethischen Problemen, die in der Gesellschaft kontrovers diskutiert werden, mit einem interdisziplinären Ansatz.
Im Jahr 2010 gingen die Referenten der Frage nach: Was sind legitime außenpolitische Interessen? Anlass für die Beschäftigung mit dem Thema war die Äußerung des Bundespräsidenten Horst Köhler, wonach eine militärische Intervention im Zweifel auch zur Wahrung der Interessen der Bundesrepublik an freien Handelswegen notwendig sei. Die auf diese Äußerung folgende Debatte führte bekanntlich zu Köhlers Rücktritt vom Amt des Bundespräsidenten. Leider sind in dem vorliegenden Sammelband nicht alle Referate des Symposions enthalten. So sind die Beiträge aus rechtlicher und zeitgeschichtlicher Perspektive zwar abgedruckt, die von Friedrich Wilhelm Graf vorgetragene sozialethische Perspektive fehlt allerdings genauso wie die Stellungnahme eines aktiven Außenpolitikers. Die abgedruckten Beiträge geben zwar interessante Einblicke ins Thema, beleuchten aber nur Teilaspekte des Problems. – Der Völkerrechtler Franz C. Mayer beschreibt die völker-, europa- und verfassungsrechtlichen Bindungen deutscher Außenpolitik, allem voran das völkerrechtliche Gewaltverbot. Letztlich muss er konstatieren, dass gerade in der Außenpolitik die Verrechtlichung der Politik am wenigsten fortgeschritten ist, die »blinden Flecken« des Verfassungsrechts aber zunehmend kleiner werden. Der Historiker Andreas Rödder beschreibt die deutsche Außenpolitik im Spannungsfeld zwischen nationalen Interessen und internationaler Integration in einem großen Bogen von 1871 bis 1989 und widmet sich dann ausführlich den Anfängen der europäischen Währungsunion. Diese habe ihre spezifische Prägung auch deshalb erhalten, weil die Bundesrepublik französischen und britischen Bedenken gegen eine neue Hegemonie eines wiedervereinigten Deutschlands entgegentreten musste.
Im Jahre 2011 wurde über die »unverfügbaren Voraussetzungen des säkularen Staates« debattiert. Ausgehend vom Böckenförde-Diktum, wonach »der freiheitliche, säkularisierte Staat […] von Voraussetzungen [lebt], die er selbst nicht garantieren kann«, gehen die Referenten auf die Frage ein, welche Rolle die Religionsgemeinschaften bei der Grundlegung des Staates spielen. Auch hier macht sich das Fehlen eines Beitrags, diesmal der des Verfassungsrechtlers Christoph Möllers, bemerkbar. Das durch die Auswahl der Referenten angestrebte runde Bild bekommt dadurch eine gewisse Unwucht. – Besonders hervorzuheben ist der Beitrag des Historikers Wolfgang Reinhard, der sich mit der Entstehung und Legitimation des Staates auseinandersetzt. Reinhard macht sich auf die mühsame Suche nach den »realhistorisch« wirksamen Voraussetzungen des freiheitlichen Staates. Weder Gott noch diverse Vertragstheorien und auch nicht die Menschenrechte können eine tatsächlich wirksame Legitimationsgrundlage liefern, so seine These. »An die Stelle elaborierter Legitimationstheorien ist eine sogenannte Basislegitimität getreten«. Der Staat wird, weil er nun einmal existiert und solange er einen gewissen Nutzen stiftet, akzeptiert. Im Gegensatz zu Böckenfördes Behauptung lebt der Staat also von Voraussetzungen, die er letztlich selbst garantiert – mögen diese auch ein sehr wackliges Fundament bilden.
Den Anstoß für die Themenauswahl des Symposions im Jahre 2012, Umgang mit Schuld in der Öffentlichkeit, gaben die Rücktritte von Margot Käßmann, Karl Theodor zu Guttenberg und Christian Wulff. Unvergessen ist Christian Wulffs öffentliches »Beichtverhör« bei Ulrich Deppendorf und Bettina Schausten. Konsequenterweise kommen zunächst zwei Medienwissenschaftlerinnen zu Wort, welche die Aufarbeitung der jeweiligen Affären in den Medien analysieren und auch medienethische Aspekte der Berichterstattung ansprechen. Der Philosoph Klaus-Michael Kodalle analysiert den Umgang mit Schuld, Entschuldigungen und Vergebung anhand einiger Beispiele und plädiert schließlich mit Kierkegaard für ein Ethos der Nachsicht. Der katholische Moraltheologe Eberhard Schockenhoff analysiert die Konzeption von Schuld in der Gegenwartsliteratur, versucht eine anthropologische Deutung der Schulderfahrung, um schließlich der Frage auf den Grund zu gehen, warum die Suche nach einem »Sündenbock« in den aktuellen Schulddebatten die Auseinandersetzung mit der Schuld eher verhindert als ermöglicht. Den Grund hierfür sieht er in der Tatsache, dass in der säkularen Gesellschaft die Instanz fehlt, die befugt wäre, Vergebung auszusprechen. So komme auch das Wissen um die Möglichkeit der Vergebung insgesamt abhanden. Kristian Fechtner geht schließlich auf die praktisch-theologische Perspektive ein. Er betrachtet den Trauergottesdienst als einen Ort, wo der Umgang mit Schuld einen rituellen Rahmen findet. Die Fokussierung der Beiträge auf eine moralische oder rechtliche Schuld im Sinne einer Normübertretung führt leider dazu, dass der ur­sprüngliche Begriff der Schuld im Sinne einer Geldschuld ein we­nig zu kurz kommt. Eine umfassendere Ausleuchtung des Schuldbegriffs wäre wünschenswert gewesen.
Der Band als Ganzer ist vor allem interessant, weil sich in einigen Aufsätzen neue Blickwinkel auf breit diskutierte Probleme ergeben und die Impulse aus den Vorträgen durch die Veröffentlichung einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden. Das Fehlen einzelner Beiträge und die Zusammenstellung von drei inhaltlich kaum zusammenhängenden Themenblöcken in einem Band sind vor diesem Hintergrund zu verschmerzen.