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Ausgabe:

April/2015

Spalte:

385–387

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Wildgruber, Regina

Titel/Untertitel:

Daniel 10–12 als Schlüssel zum Buch.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. XI, 325 S. = Forschungen zum Alten Testament. 2. Reihe, 58. Kart. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-151966-6.

Rezensent:

Martin Rösel

Die Studie von Regina Wildgruber ist eine von G. Steins betreute Dissertation, die 2011 an der Universität Regensburg angenommen wurde. Sie setzt sich zum Ziel, mit Hilfe eines close reading der großen Schlussvision des Danielbuches die Aporien einer allein an historischen Fragen orientierten Exegese zu überwinden und das ganze Buch für heutige Leserinnen und Leser wieder theologisch anschlussfähig zu machen. Dabei konzentriert sich die Arbeit ganz auf den Textabschnitt Dan 10–12, knapp 80 Verse; die Anfangskapitel des Buches kommen erst am Ende der Arbeit auf kaum 20 Seiten in den Blick.
Die Arbeit setzt ein mit dem Kapitel I (5–44), »Daniel 10–12 als Schluss des hebräisch-aramäischen Danielbuches«. Hier wird zu­nächst eine wörtliche Übersetzung des hebräischen Textes geboten, darauf folgt eine knappe Inhaltsangabe mit einer sachgerechten Gliederung der Perikope (31). Die kenntlich gemachten Ab­schnitte werden danach kurz charakterisiert und die zentrale Vision in Dan 11,2b–12,3 als Hauptabschnitt herausgestellt, dem im Folgenden das Hauptinteresse gelten soll.
Die Vision in Dan 11 f. ist deshalb von herausragender Bedeutung, weil sie die Geschichtsereignisse von Alexander dem Großen bis zur Entweihung des Tempels in Jerusalem unter Antiochus IV. Epiphanes in kaum verschlüsselter Sprache nacherzählt und dann zu einer Weissagung über das Ende des Se­leukidenkönigs übergeht, die mit einer Aussicht auf das Weltende und das Endgericht mit der Auferstehung endet. Sie gilt allgemein als jüngster Teil der hebräisch-aramäischen Version des Buches und wird aufgrund der genannten historischen Ereignisse um das Jahr 165 v. Chr. datiert.
In Kapitel II, »Die historische Lesart von Dan 11«, will die Vfn. vor allem die Aporien der gegenwärtigen Forschung aufzeigen, deren auf historische Fragen ausgerichtete Hermeneutik wichtige Sinnaspekte des Textes nicht zu erfassen in der Lage sei und die theologische Qualität der Vision nicht erschließe. Dazu wird zunächst detailliert die Auslegungsgeschichte nachvollzogen, von der Alten Kirche bis zu aktuellen Kommentaren (46–96). Dabei wird konstatiert, dass die vorkritische Hermeneutik der Prophetie seit der Aufklärung durch die Hermeneutik des Berichts abgelöst worden sei, bei der sich die Forschung auf die historischen Fragen konzentriere. Die Pragmatik des Textes bleibe für heutige Leser stumm (95).
In einem zweiten Schritt werden danach »die historischen Be­zugspunkte von Dan 11« aufgezeigt (96–133). Dieser Abschnitt ist ein guter historischer Kommentar zu der Darstellung des Ge­schichtsablaufs nach Dan, in dem die Vfn. aber das hauptsächliche Interesse hat, auf die Unsicherheiten und offenen Probleme der historisch-kritischen Rekonstruktion hinzuweisen. Das wird dann im dritten Abschnitt deutlich, der die »Grenzen der historischen Lesart von Dan 11« (134–162) definiert, um zur Methodik des »close reading als alternativem Ansatz« (162–168) hinüberzuleiten.
Es ist bemerkenswert, welch hoher argumentativer Aufwand hier betrieben wird, um aus offenen Fragen der bisherigen Exegese der Kapitel 10 bis 12 bibelhermeneutische Aporien herzuleiten. Das geht so weit, dass auf S. 153 f. modernen Bibelübersetzungen vorgeworfen wird, sie würden den schwierigen Text des Danielbuches unzulässig glätten. Die Argumentation gipfelt in dem Vorwurf, dass der historische Zugang keine genuin theologischen Perspektiven auf den Text eröffnen würde (160). Abgesehen davon, dass überhaupt nicht geklärt wird, was denn solche genuin theologischen Perspektiven sein sollen, blendet die Vfn. offensichtlich verschiedene Versuche, etwa von K. Koch oder M. Albani, gänzlich aus, die ebensolches versuchen. Hinzu kommt, dass die Vfn. sich überaus kleinteilig auf Dan 11 konzentriert und neuere Versuche zur Gesamtdeutung des Buches nicht zur Kenntnis nimmt (etwa A. C. Merrill Willis, Dissonance and the Drama of Divine Sovereignity, 2010). Schwerer wiegt noch, dass die breite Debatte um die Entstehung und Bedeutung der Apokalyptik, etwa aus dem Umfeld des »Enoch-Seminars«, keine Rolle spielt; hier wird deutlich, wie intensiv die Problematik des Danielbuches in kanonische und hermeneutische Debatten einzubinden ist. Stattdessen werden häufig alte Positionen wie Plöger oder von Rad als Ausgangspunkt der Argumentation zitiert.
Durch die vorgeschlagene Methodik des close reading soll der bisherigen Exegese gegenüber der Text in kanonischer Perspektive als eigenständiges Kunstwerk verstanden werden; hier werden Ansätze von Goldingay und Meadowcraft (die sich aber meines Wissens als historisch arbeitende Exegeten verstehen) aufgenommen, um weitere Sinnpotentiale zu entfalten. Dabei wäre zunächst kritisch anzumerken, dass die kanonische Perspektive sich nur auf das hebräisch-aramäische Danielbuch bezieht. Die im katholischen Kanon gleichberechtigten Ergänzungen in Dan 3 und 13; 14 werden nicht mit einbezogen, obgleich sie doch Zugang zu den ältesten Reaktionen auf das vom Danielbuch angebotene Sinnpotential geben würden.
Mit Kapitel III, »Literarische Muster. Die ›Textur‹ von Dan 11« (169–253), kommt die Vfn. sehr spät zum eigentlichen Anliegen der Studie. Vorgeführt wird ein »aufmerksames, aber unfokussiertes« Lesen des Textes (169), durch das Argumentationsstrukturen und verschiedene semantische Felder erfasst werden sollen. Erneut fällt die zu enge Konzentration auf Dan 11 auf, so entgeht der Vfn. etwa, dass die Bedeutung des Verbums ‘amad im Sinne eines Herrschaftsantritts von den früheren Kapiteln her geprägt ist. An anderen Stellen wundert man sich über die Schlichtheit des Ergebnisses, etwa 207, dass das Thema »Macht« in vielfachen Varianten begegne und im ganzen Danielbuch hohe Relevanz besitze. Ich sehe nicht, was an diesem Ergebnis neu ist oder von der bisherigen Exegese übersehen wurde.
Im Ergebnis wird Dan 11 als schematisch-typologische Darstellung begriffen, die vermitteln soll, dass die Ereignisse als Bestandteil einer größeren, göttlichen Ordnung der Geschichte zu verstehen sind. Aber: war das nicht von Dan 2 oder 7 her ohnehin als Leserichtung vorgegeben? Das Danielbuch wird als Widerstandsliteratur verstanden, welche die Macht der Weltreiche in Frage stellt und das durch Daniel vermittelte Verstehen der Leser und die von Gott bestimmte Zeit als Gegenkräfte vorstellt. Hier wird dann auf S. 248 das Konzept der supra-history als Deutungsrahmen eingeführt, wobei übersehen wurde, dass diese Theorie einer prophetischen Metahistorie längst von Klaus Koch in die Debatte eingeführt wurde.
In Kapitel IV, »Daniels Perspektive. Die Funktion des narrativen Rahmens« (256–278), werden die bisher nicht behandelten Ab­schnitte aus Dan 10 und 12 behandelt, indem die vorher kenntlich gemachten thematischen Felder, etwa »Verstehen« oder »Zeit«, nachgezeichnet werden. Die Rahmenkapitel gelten als Leseanleitung, so dass Daniel als Gegenentwurf zu den Königen und als Identifikationsfigur für die Leser begreifbar wird.
In Kapitel V, »Der Schluss als Schlüssel« (279–298), werden dann die Motivlinien »Macht«, »Verstehen« und »Zeit« durch das gesamte Danielbuch verfolgt; mit ihrer Hilfe werde das Gesamtanliegen des Buches verstehbar als »komplexe Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen dem Gottesvolk Israel und den fremden Völkern« (293). Der Buchschluss lasse das Danielbuch als Lebensanleitung für die Leser erscheinen, die angesichts der Weltlage mit Daniel zunächst die Ratlosigkeit teilen und dann zu tieferem Verstehen geführt werden. Dies sei intertextuell mit Psalm 1 und 2 verknüpft; im Ergebnis entwerfe das Danielbuch eine universale Perspektive des Heils, für Israel wie für die Völker. Diese Ergebnisse erscheinen etwas schlicht und unspezifisch für den breiten Erweis der angeblich unzureichenden historischen Exegese.
Der Wert der Arbeit besteht m. E. in der sehr genauen Beschreibung der vielfältigen Probleme im schwierigen Kapitel 11, das gilt auch für die Einblicke durch das close reading. Sie ist damit auch für die viel geschmähte historisch-kritische Exegese von Gewinn. Was die theologische Bedeutung des Danielbuches angeht, so scheint mir eine rezeptionsgeschichtliche Perspektive angemessener zu sein. Sie ist in der Lage, die komplexe Entstehungsgeschichte theologisch fruchtbar zu machen, indem sie die Wachstumsstufen als Reaktion auf veränderte historische und theologische Herausforderungen verstehbar macht, etwa von der Diaspora-Existenz zum Leben unter einem aggressiven Fremdherrscher und einer an den Hellenismus anpassungswilligen Umwelt. Dies wird durch die Perspektive der deuterokanonischen Zusätze verstärkt, die ja z. B. in Dan 3 das Gotteslob der Gemeinde oder in der Susanna-Erzählung das Problem der Ungerechtigkeit innerhalb der eigenen Gemeinschaft einbringen und damit die Deutungsperspektiven des Buches deutlich vermehren.