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Ausgabe:

April/2015

Spalte:

361–363

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Svebakken, Hans

Titel/Untertitel:

Philo of Alexandria’s Exposition of the Tenth Commandment.

Verlag:

Atlanta: Society of Biblical Literature 2012. 228 S. = Studia Philonica Monographs, 6. Kart. US$ 29,95. ISBN 978-1-58983-618-1.

Rezensent:

Maren Niehoff

Das Buch ist eine überarbeitete Doktorarbeit an der amerikanischen Loyola Universität. Hans Svebakkens Ziel ist es, Philons Erklärung des zehnten Gebots philosophisch einzuleiten und dann detailliert zu kommentieren. Das Thema ist ausgezeichnet ge­wählt, denn es geht hier um Philons systematische Stellungnahme zur Frage der Begierden und deren Kontrolle. Während dieses Thema schon oft im Rahmen philonischer Ethik allgemein besprochen wurde, geht S. textbezogen vor und erläutert Philons Position an hand seiner Erklärung von Ex 20,17 innerhalb seines Traktats über die speziellen Gesetze.
S. stellt eine klar gegliederte und durchsichtliche Studie vor, die auf detaillierter Lektüre vieler griechischer Texte basiert, nach einigen einleitenden Worten einen Gesamtüberblick über Philons Seelentheorie im Rahmen des Mittelplatonismus gibt und dann in Kapitel 4 zu einer Übersetzung und systematischen Kommentierung des philonischen Textes übergeht. S. versteht seine Studie als einen Beitrag zur Integrierung Philons in zeitgenössische philosophische Diskurse, und darin liegt in der Tat ihr Wert. Allerdings ist die philosophische Diskussion des Buches stärker und überzeugender als der Kommentar im letzten Teil, der leider zu sehr die vorherige Diskussion wiederholt und öfter auch ungenau ist.
S. kontextualisiert Philons Seelentheorie im alexandrinischen Mittelplatonismus, den er hauptsächlich mit Eudorus, Ps.-Timea­us und Arius Didymus, aber auch Plutarch skizziert. Seine besondere Aufmerksamkeit gilt der Abgrenzung platonischer Vorstellungen von der Stoa. Platon und seine Schüler gehen von einer Teilung der Seele in rationale und irrationale Teile aus, wobei den Begierden eine zwar niedrigere Rolle im irrationalen Bereich zugestanden wird, aber immer von ihrer festen Verankerung im Menschen ausgegangen wird. Da solche Begierden ein unabänderliches Faktum sind, geht es in der platonischen Ethik um deren Kontrolle durch den Verstand und Eingliederung in ein geordnetes Leben. Die Stoa dagegen nimmt an, dass die Begierden aus korrupten Denkprozessen entstehen und somit eine Art Unfall sind. Das Ziel der stoischen Ethik ist somit eine völlige Vermeidung von Emotionen und Begierden.
S. zeigt sehr schön, wie in mittelplatonischen Diskursen Platons Schema einer Dreiteilung der Seele vereinfacht und auf eine Dichotomie zwischen ratio und irratio reduziert wird. Weiterhin ist seine klare Unterscheidung zwischen platonischen und stoischen Zugängen zu zentralen Begriffen wie θυμός, πάθος und ὁρμή hilfreich. S. ist sich bewusst, dass sich bei Philon auch stoische Begriffe einschleichen, und interpretiert diese als eher äußerliche Formulierungen, die ganz unstoisches, nämlich platonisches Ge­dankengut vermitteln:
»He has no real commitment to the Stoic doctrine, but he insists on the Middle-Platonic bipartition of rational over against non-rational, with the patently non-Stoic assumption of antagonism between the two components […] Philo does not endorse a Stoic understanding of the soul – he merely superimposes Middle-Platonic bipartition onto a Stoic formulation, always presuming a moral psychology incompatible with Stoic monism.« (63)
Diese Zeilen verdeutlichen S.s Hauptanliegen, Philon in mittelplatonischen Diskursen zu verankern. Dieses Anliegen ist sowohl die Stärke der vorliegenden Studie als auch ihre Schwäche. Es gelingt S., auf viel platonisches Gedankengut aufmerksam zu machen und somit eine bestimmte wissenschaftliche Richtung in der Philonforschung weiterzuentwickeln, die durch David Runia und Thomas Tobin schon wichtige Impulse erhalten hat. Es ist besonders erfreulich, dass S. das komplexe Verhältnis zwischen philosophischen Begriffen und letztendlicher Aussage problematisiert und so Philons oft ungewöhnlichen, ja subversiven Gebrauch von Begriffen zeigt.
S.s mittelplatonisches Anliegen wird aber auch zu einer Schwäche, da es zu einseitig vertreten wird. Zum einen unterscheidet er nicht zwischen dem wesentlich platonischer ausgerichteten Allegorischen Kommentar und der Exposition der Gesetze, welche häufiger und tiefergehenden Gebrauch von stoischem Gedankengut macht. Seine Studie von Philons Seelentheorie basiert fast ausschließlich auf Texten aus dem Allegorischen Kommentar, deren Relevanz zu der höchstwahrscheinlich später verfassten Exposi-tion nicht vorausgesetzt werden kann und daher einer detaillierten Erläuterung bedarf. Außerdem schließt S. öfter von mittelplatonischen Texten auf Philons Position, indem er annimmt, dass er die Meinung seiner Kollegen teile, ohne dies jedoch explizit zu sagen (s. 108.120, n. 31.124). Gewichtiger jedoch sind gewisse Ungenauigkeiten, die sich in die Übersetzung und den Kommentar von Philons Text einschleichen. So übersetzt S. ἔρως als »tyrannical desire« und ἐπιθυμία als »otherwise reasonable desire« (127.105). Manche stoische Phrasen kommen in der Übersetzung kaum noch durch. Wenn wir zum Beispiel S.s Übersetzung von Spec. 4.80 mit der von Colson in der klassischen Ausgabe von Loeb vergleichen, fällt auf, dass der Letztere die stoische Entlarvung von »things which seem good, though they are not truly good« textgetreu beibehält, während S. äußerst allgemein und damit missverständlich formuliert: »desire for the false goods people long to possess« (124). Bei der Lektüre wird man den Eindruck nicht los, zu stark in eine bestimmte, nämlich mittelplatonische Richtung orientiert zu werden.
Der bleibende Wert des Buches besteht in dem Ansatz, Philon vor dem Hintergrund zeitgenössischer Ethikdiskurse zu verstehen. Nicht mehr Platon oder Aristoteles werden als Hauptreferenzpunkte angenommen, sondern zeitgenössische Denker, die die klassischen Traditionen schon verarbeitet und aktualisiert haben. Der Einbezug von Plutarch ist in diesem Zusammenhang besonders erfreulich und verdient, systematisch und umfassend untersucht zu werden.