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Ausgabe:

April/2015

Spalte:

334–338

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Chan, Joseph

Titel/Untertitel:

Confucian Perfectionism. A Political Philosophy for Modern Times.

Verlag:

Princeton u. a.: Princeton University Press 2014. 265 S. = Princeton-China Series. Lw. US$ 35,00. ISBN 978-0-691-15861-7.

Rezensent:

Ralf Moritz

Joseph Chan ist Professor am Department of Political and Public Administration der University of Hongkong. Sein Leben in zwei Kulturen prägt dieses Buch wie die bereits vorliegenden Bücher, die sich um die Vermittlung zwischen chinesisch-konfuzianischer und westlicher Kultur bemühen. Es hat zwar beileibe nicht die philosophische Tiefe bereits bekannter modern-konfuzianischer Werke etwa eines Mou Zongsan oder Tang Junyi, dafür aber ist es unmittelbar politisch und auf praktische Handhabe orientiert.
Das Buch besteht – nach einer Einführung – aus zwei Teilen: Part I: Political Authority and Institution, und Part II: Rights, Liberties, and Justice. Es folgen Conclusion, zwei Appendizes, 13 Seiten Bibliographie sowie ein Index.
Prinzipiell bekennt sich der Vf. zur pluralistischen Gesellschaft mit ihren liberalen, demokratischen Institutionen. Er fühlt sich jedoch zu dieser Publikation veranlasst, weil er ebendiese Gesellschaft in einer »nonideal situation« sieht. Nicht ideal ist sie für ihn, weil er sie als in wachsendem Maße gespalten wahrnimmt. Er führt diesen Umstand allerdings nicht auf die zunehmende Akkumulation nicht-erarbeiteten, leistungsfreien Vermögens zurück, sondern auf die Dominanz individueller Rechte über die Moral mit der Konsequenz sich verstärkender Konflikte zwischen individuellen Interessen und dem Gemeinwohl (»common good«) und dessen zunehmender Missachtung. Die Benutzung des Rechts als kardinales Instrument des Umgangs mit sozialen Problemen und insbesondere die Betonung des Rechts auf »personal autonomy« nähre das prägende Phänomen der Ich-Sucht des um sich selbst ge­krümmten Individuums; es wird der im konfuzianischen Sinne »kleine Mann« beklagt, der deshalb klein ist, weil er nur auf sich, aber nicht auf das große gesellschaftliche Gemeinwohl orientiert ist. So betrachte jedes Individuum die Interessen des anderen als Gefahr für die eigenen Rechte mit der Folge, eigene Rechte ohne Rücksicht auf andere durchzusetzen. Außerdem konstatiert der Vf. in vielen Ländern eine wachsende Unzufriedenheit mit der repräsentativen Demokratie (70).
Angesichts dessen soll das Buch Wege aufzeigen, um die Defekte der liberalen, demokratischen Gesellschaften zu beheben. Dazu wird eine neue moralische Verfassung von Gesellschaft durch den Zugriff auf traditionelle konfuzianische Werte vorgeschlagen. Dreh- und Angelpunkt ist der Basis-Wert ren – die Integration des Einzelnen in die Gemeinschaft bei Arbeit für das Gemeinwohl als die eigentliche Essenz des konfuzianischen Ideals und als Ausweis für den sittlichen Reifegrad des Individuums. Das schließt die Entwicklung einer Kultur der Pflicht ein bei Abkehr vom »right-based approach« der Politik. Mit der Umkehr des bestehenden Verhältnisses von Recht und Moral erfolgt auch eine Umkehr des bestehenden Verhältnisses von Rechten und Pflichten. Mit der Arbeit für das Gemeinwohl partizipiert der Einzelne zugleich an diesem Ge­meinwohl – öffentliche und private Interessen erscheinen in Einheit und der Konflikt zwischen ihnen gelöst. Konfuzianische Moral soll die moderne Gesellschaft durchdringen, womit diese perfektioniert wird – darum der Titel Confucian Perfectionism.
Wie beim traditionellen konfuzianischen System der Beamtenexamina sollen durch demokratische Wahlen – vollzogen vom ge­samtgesellschaftlich verantwortungsbewussten Wähler, der stärker als bisher mit seiner Stimme Politiker abstraft oder belohnt – nur Leute mit moralischer Exzellenz (also mit ausgewiesener Bereitschaft und Fähigkeit, sich dem Gemeinwohl zu widmen) an die Hebel der Macht gelangen. Das Verhältnis von Regierenden und Regierten soll damit auf eine neue Vertrauensbasis gestellt werden. Dieses Verhältnis wird so geprägt durch »mutual commitment – rulers genuinely care for the people and promote their well-being […] The people are subsequently moved to accept the rulers and support them« (79 f.). Der große konfuzianische Geist der Einheit, der auf der traditionellen Idee des Ineinandergreifens von Sorge und Dienst beruht, erscheint in modernem Gewand. So stehen Regierte und Regierende in der gegenseitigen Verpflichtung fortgesetzter Arbeit an einer »harmonischen Gesellschaft«, bei der es stets um die umgreifende Integration des Ganzen geht – schon Konfuzius sprach davon, dass der beispielhafte, von moralischer Exzellenz geprägte Mensch nicht »Partei« (also nicht auf pars = Teil ausgerichtet) ist.
Dabei hat Macht keine andere Legitimation, als dem Volke zu dienen. Einmal per ethisch-moralischer Gütekontrolle gewählt, haben die Regierenden die Pflicht, die Menschen des Volkes im Sinne des Gemeinwohls und damit auch des »self-constraint« zu erziehen. Das Ergebnis ist eine permanente Atmosphäre der Erziehung, wobei der zwangsläufig autoritäre Staat seine paternalistische Intervention in das persönliche Leben mit dem Hinweis auf das Volkswohl rechtfertigt. Denn: Höchste Aufgabe von Politik ist es, jedes Mitglied der Gesellschaft zu befähigen, ein »good life« zu führen – »Sufficiency for all« (169). Das meint vor allem stabile materielle Lebensumstände sowie Sicherheit, so dass jeder Mensch befähigt ist, ein ethisch begründetes Leben zu führen. Aber Egalität ist des Konfuzianers Sache nicht: »the proper principle for the distribution of offices, positions, and emolument is one of merit and contribution« (ebd.).
Zwar gilt Politik nicht als essentiell durch Recht konstituiert; dennoch braucht die moderne Gesellschaft – in einer vom »common good« bestimmten Dimension – Rechtsverhältnisse, um zu funktionieren. Das betrifft Aspekte des Wirtschaftsrechts, aber auch bestimmte Menschenrechte – so das Recht des Volkes auf Schutz, den Schutz vor Folter und ungerechtfertigter Verfolgung, das Recht auf friedliche Versammlung und Vereinigung und auch die Gleichheit vor dem Gesetz. Aber nicht der Besitz von Rechten, sondern – im klassisch konfuzianischen Sinne – die moralische Kapazität zu integrativer Mit-Menschlichkeit bestimmt Wert und Würde des Menschen – nur so sieht der Vf. den Zusammenhalt der Gesellschaft gewährleistet.
Dabei greift der Vf. eben nicht das bekannte Konzept von der Pluralität der Moderne auf, um etwa dem Anspruch entgegenzutreten, westliche Kultur als Belehrungskultur gegenüber dem Rest der Welt aufzubauen. Vielmehr konstruiert er seinerseits den universellen Anspruch einer chinesisch-konfuzianischen Belehrungskultur, wobei er ohne Zweifel seine profunde Kenntnis der konfuzianischen Tradition ausweist. Dabei unterstellt er, dass der zentrale christliche Wert der Nächstenliebe nicht hinreicht, um die moderne Gesellschaft von ihren Defekten zu heilen. Andererseits räumt der Vf. ein, dass das von ihm präsentierte Projekt der Vermittlung von Konfuzianismus und Moderne Anpassung und kritische Überarbeitung bestimmter Aspekte der traditionellen konfuzianischen Ethik verlangt, so die Preisgabe der traditionellen Idee von einem Monismus der Macht zu Gunsten der Gewaltenteilung. Ebenso sieht er sich veranlasst, im Kontext einer modernen Lebensweise das Recht auf individuelle Vorlieben, Lebenspläne und Entscheidungen zu akzeptieren. Persönliche Freiheit ist ein Gut, aber kein absolutes – alle Wirkungsfelder von Recht und Gesetz sind determiniert durch den übergeordneten Wert des Volkswohls.
Auch werden Ergänzungen zu den demokratischen Institutionen vorgeschlagen, etwa die Einrichtung einer zweiten Kammer des parlamentarischen Systems, bestehend aus Leuten von Weisheit und Ethos mit Vorbildcharakter für die ganze Gesellschaft, nicht-demokratisch gewählt durch »selection by colleagues« (106). Denn: Letztlich sei es doch nicht zuverlässig, dass bei demokratischen Wahlen wirklich die Besten gewählt werden. Hinsichtlich des Steuersystems schlägt er die Bildung von Service-Agenturen für bestimmte öffentliche Aufgaben vor, die für sich und ihre Arbeit beim Steuerzahler werben müssen, der dann entscheidet, welcher Agentur für welche Leistung er sein Geld zahlt – ein neuer Aspekt von Demokratie zweifelsohne (188).
Hier wird ein Gegenentwurf zur neoliberalen Gesellschaft entwickelt. Die Frage ist nur: Wie soll dieser Entwurf in einer Gesellschaft umgesetzt werden, deren höchster Wert das Geld ist? Der Vf. setzt im Sinne eines genuin konfuzianischen Moraldogmatismus auf Erziehung und argumentiert damit als konfuzianischer Aufklärer. Indem er seine Thematik auf das Verhältnis von Ethos/Mo­ral/Erziehung und politischem System fokussiert, hindert er sich selbst daran, die basalen Triebkräfte und Entwicklungstendenzen moderner Gesellschaften und ihrer globalisierten Ökonomien in Rechnung zu stellen, um so Realisierbarkeit und Akzeptanz dieses Gesellschaftsentwurfs auszuloten.
Spannend wäre es, wenn der Vf. sein Gesellschaftsbild an der Realität der konfuzianisch beeinflussten Staaten Ostasiens abklärte. Leider findet sich nur die knappe Bemerkung, wonach die Entwicklung dort dank vor sich gehender Demokratisierungsprozesse in die richtige Richtung gehe. Übermächtig steht die Frage nach dem Verhältnis dieses Modells zur politischen Realität der Volksrepublik China im Raum, wo die Führung aktiv konfuzianische Moral propagiert und den Aufbau einer »harmonischen Gesellschaft« verkündet. Der Vf. lässt uns jedoch nicht an seiner Meinung teilhaben.
Ohne Zweifel regt das Buch zum Nachdenken an. Immerhin ist das Nachdenken über die ethischen Grundlagen von Gesellschaft und menschlichem Verhalten und damit auch über die Sinngebung von Politik eine stetige Aufgabe. Die dynamische Balance von Rechten und Pflichten des Staatsbürgers, von individueller Freiheit und deren Begrenzung muss ein permanentes Thema des öffentlichen Diskurses sein, um mit den jeweils geeigneten politischen Maßnahmen das Beieinanderbleiben von Recht und Moral zu fördern und den Zusammenhalt der Gesellschaft zu sichern. Fortdauernd steht die Aufgabe, Demokratie zu optimieren – gerade ange sichts dessen, dass dieser Gesellschaftstyp, der sich politisch in Form der repräsentativen Demokratie organisiert, zugleich auch die entscheidenden Limitationen ebendieser Demokratie hervorbringt, eben durch jene internationalen Wirtschafts- und Finanzkräfte wie durch jene global agierenden Sicherheitsdienste, die weder vom Wähler noch von demokratisch gewählten Regierungen kontrolliert werden können. Nur eine Gesellschaft, die sich hinterfragt, kann sich weiterentwickeln.