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Ausgabe:

März/2015

Spalte:

299–300

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Ries, Markus, u. Valentin Beck [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Hinter Mauern. Fürsorge und Gewalt in kirchlich geführten Erziehungsanstalten im Kanton Luzern

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2013. 378 S. = Edition NZN bei TVZ. Kart. EUR 32,00. ISBN 978-3-290-20088-6.

Rezensent:

Christian Grethlein

Die von wichtigen Vertretern aus mehreren Schweizer Katholischen Kirchen unterstützte interdisziplinäre Studie spürt am Beispiel der zehn katholisch geführten Kinderheime im Kanton Lu­zern »den gesellschaftlichen und ideologischen Ursachen von Machtmissbrauch in der Betreuung von Verdings- und Heimkindern« (7) nach. Dabei untersuchen elf Historiker, Pädagogen und katholische Theologen, unter ihnen fünf Frauen, in sieben Teilstudien »die Verbindung zwischen der Gewaltausübung in der Heimerziehung und den Besonderheiten des kirchlichen wie des gesellschaftlichen Umfeldes« (15). Konkret zeigen sich drei Formen der Gewaltausübung, die in den kirchlichen Heimen verbreitet waren: Körperstrafen, die bis in die zweite Hälfte des 20. Jh.s als allgemein akzeptiert erschienen (mit abnehmender Tendenz); »unbarmherzig harte, demütigende Züchtigung, die in der Zeit selbst schon als verwerflich galt« (240); pädosexueller Missbrauch, der stets gegen ziviles und kirchliches Recht verstieß.
Die ersten vier Beiträge sind historisch orientiert. Loretta Seg-lias führt differenziert in die Heimerziehung ein. Dabei macht sie u. a. darauf aufmerksam, dass bereits recht früh einzelne Personen die Gewalttätigkeiten gegen Kinder kritisierten, ohne aber (ausreichendes) Gehör zu finden. Es werden also beim Problem der Gewalt gegen Kinder im vergangenen Jahrhundert keineswegs (nur) heutige Normen auf frühere Zeiten projiziert.
Eindrücklich bringen dann zwei Beiträge die Stimmen Betroffener, besser: überlebender Betroffener zu Gehör, weil die Gewalt- und Missbrauchsexzesse zahlreiche Kinder in den Suizid trieben (z. B. 101.112.157.174). Hermeneutisch reflektiert stellt dabei Stefanie Klein – in Aufnahme der narrativ-politischen Theologie von Jo­hann Baptist Metz – die besondere theologische Dignität des so vollzogenen Brechens des lange erzwungenen und verbreiteten Schweigens heraus (116).
Die historischen Studien werden durch eine Fokussierung auf »Die katholische Kirche und die Gewalt der Heimerziehung« von Markus Ries und Valentin Beck abgeschlossen. Auch diese beiden Luzerner Kirchenhistoriker weisen auf mehrfache zeitgenössische Kritik am Gewalt-Regime in den katholischen Heimen hin, die aber von der Hierarchie übergangen wurden (179.221–223.227).
Am Anfang der drei auf die aktuelle Situation bezogenen Studien steht eine praktisch-theologische Untersuchung von »Gewalt und sexuelle[m] Missbrauch in kirchlich geführten Kinderheimen« von Stefanie Klein. Sie stellt in ihrer theologischen Klarheit und zugleich konzeptionellen Schärfe den Höhepunkt dieses Bandes dar. Deutlich wird die vielfache sexuelle Gewalt gegen Kinder als die »Unterseite« kirchlicher Strukturen (303) benannt. Überzeugend weist die Luzerner Pastoraltheologin dann die verbreitete moralpädagogische Fo­kussierung auf das sechste Gebot als theologisch unzureichend zurück (314.318). Unter Bezug auf einschlägige Literatur zu Opfersituation, Täterforschung u. a. werden Verstöße gegen das erste und fünfte Gebot diagnostiziert (318 f.). Dazu überwindet Klein die verbreitete psychologische Engführung, indem sie – u. a. unter Bezug auf Reemtsmas einschlägige Veröffentlichungen – die institutionelle Verantwortlichkeit der Kirche herausarbeitet. Nicht von ungefähr ergab der Bergmann-Bericht, der Missbrauchsfälle in Deutschland auswertete, dass 45 % der in Institutionen gemeldeten Taten im Rahmen katholischer Einrichtungen geschahen (14 % evangelische Kirche; 14 % Schulen ohne kirchlichen Hintergrund; 11 % Heime ohne kirchlichen Hintergrund, 311). Dabei rückt u. a. das männerbündische »Schweigekartell« (328 ff.) in den Blick. – Es folgen zwei kürzere moralpädagogische und ethische Überlegungen zum Thema.
Insgesamt liegt ein eindrucksvoller und zugleich bedrückender Band vor, in dem die römisch-katholische Landeskirche des Kantons Luzern multiperspektivisch die furchtbare Gewaltgeschichte von zigtausenden Kindern dokumentieren und einer ersten theologischen Reflexion unterziehen lässt. Dabei werden kontroverse Themen wie der Pflichtzölibat, die überkommene katholische Sexualmoral, das Schweigekartell der kirchlichen Hierarchie und vor allem die mangelnde Empathie von in der Heimerziehung tätigen Schwestern und Priestern nicht ausgespart. Dass dies für die Kirchentheorie erhebliche Konsequenzen haben muss, wird wenigstens angedeutet. In ihr geht es dann nicht um eine »societas perfecta«, sondern um eine »von der Sünde gezeichnete« Institution (Hans Halter, zitiert 314).