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Ausgabe:

März/2015

Spalte:

209–211

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Markl, Dominik

Titel/Untertitel:

Gottes Volk im Deuteronomium

Verlag:

Wiesbaden: Otto Harrassowitz Verlag 2012. XIV, 363 S. m. Abb. u. Tab. = Beihefte zur Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte, 18. Geb. EUR 84,00. ISBN 978-3-447-06763-8.

Rezensent:

Reinhard Müller

Während die alttestamentliche Wissenschaft mehr als 200 Jahre fast ausschließlich entstehungsgeschichtliche Fragen behandelt hat, wurden in den zurückliegenden Jahrzehnten, namentlich seit den 1980er Jahren, zahlreiche Stimmen laut, nach denen die »diachrone« Perspektive wenn nicht zu ersetzen so doch zu ergänzen sei um eine »synchrone« Auslegung, die unter Absehung von historischen Fragen die uns überkommene Gestalt der Texte erklärt. Dominik Markls Buch, eine überarbeitete Innsbrucker Habilitationsschrift, bietet eine Auslegung des Dtn, die in dieser neueren Forschungstradition steht. Die umfangreiche Studie besticht durch eine Fülle detaillierter Textlektüren, in denen höchst komplexe literarische Strukturen aufgedeckt und auf ihre Wirkabsicht hin befragt werden.
In der Themenwahl lehnt sich M. an von Rads Dissertation zum Gottesvolk im Dtn an. Wie von Rad gesehen habe, könne »eine Deutung des Deuteronomiums in seiner Gesamtheit […] ihrem Gegenstand gemäß nur ›theologisch› sein«, wobei M., »[a]nders als es von Rad in seiner forschungsgeschichtlichen Situation möglich war«, allein die »Endgestalt« des Buches betrachtet (3). Genauer: Es geht ihm um die »Botschaft« der Endgestalt, ihre kommunikative Absicht. Um diese zu erfassen, entwickelt M. eine auf die differenzierte dtn Textpragmatik ausgerichtete Methodik; ein Schwerpunkt liegt auf der Herausarbeitung der »psychologischen« Di­mension der Texte, die nach M. vor allem in deren Wirkung auf die Emotionen der Adressaten besteht. M. unterscheidet dabei zwischen den Adressaten in der Welt des Textes (den Israeliten in Moab) und der »impliziten Adressatenschaft« des Buches, die mit dem exilierten Israel kurz vor der Rückkehr ins Land zu identifizieren sei; die »historisch intendierte Adressatenschaft« sei dagegen »die im Wiederaufbau befindliche frühjüdische Gesellschaft« der (späten) Perserzeit (11; vgl. 291 f.). Das Dtn in seiner Gesamtheit richte sich an Letztere, um, so M.s etwas unschön formulierte, aber einleuchtende These, »›Volk Gottes‹ zu formieren«.
Zur Erläuterung konzentriert sich M. auf die Rahmenkapitel, vor allem auf den hinteren Rahmen. Rhetorik und Didaktik des Dtn seien mit einer auf die »emotionale« Seite der Gottesbeziehung (»Jhwh fürchten und lieben«) ausgerichteten »psychologischen Theorie« (57) verknüpft: »Moses politische Rhetorik sucht durch Lob und Tadel bei seinen Hörern die Gefühle von Stolz und Scham, Mut und Demut hervorzurufen, um Israels kollektive moralische Identität zu formieren, die handlungsleitend für die Zukunft des Volkes sein soll.« (85) In diesem Zusammenhang legt M. erstmals eine systematische Analyse des dtn »heute« vor; er arbeitet das faszinierende Phänomen heraus, dass der Text mehrfach absichtsvoll die Grenze zwischen »textinterner« und »textexterner« Dimension aufhebt, so dass im mosaischen »heute« die Gegenwart der impliziten Adressaten zum Thema wird. Die Auslegung von Dtn 29 f. – der schönste und theologisch dichteste Abschnitt von M.s Buch – erklärt diese Rede als Sprechakt, der den Moabbund konstituiert: Mose spreche hier deutlicher als sonst die impliziten Adressaten an, für die der Bundesbruch bereits Vergangenheit ist; diese antworteten in 29,28 mit einem Bekenntnis, das ihre Umkehr bezeugt. So eröffne der Moabbund »auf sublime Weise die Möglichkeit […], seine eigene Verletzung zu überwinden« (101), womit er sich als aktualisierende und überbietende Transformation des Horebbundes erweise. Vollendet werde der Moabbund durch die prophetische Ankündigung von Bundesbruch und göttlichem Erbarmen in Dtn 32 (vorbereitet durch 31,16–29). Nach einer sehr genauen Lektüre von Dtn 31 zeichnet M. Aufbau und Pragmatik des Moseliedes nach (leider ohne vollständige Übersetzung), um anschließend zu zeigen, mit welchen Texten im Dtn und im (masoretischen) »Kanon« sich Dtn 32 berührt; das Lied sei ein »kanontheologischer« Schlüsseltext, da es den Eindruck erwecke, dass in Hinteren Propheten und Schriften, vor allem den Psalmen, Moses Urprophetie immer wieder aufgegriffen wird (M. deutet an, dass er auch literargeschichtlich eine Priorität des Liedes annehmen würde).
M.s Studie ist in ihrer Konsistenz und in ihren Ergebnissen beeindruckend. Im Ganzen bleibt jedoch unklar, wie sich M.s Blick auf die »Endgestalt« zur historischen Perspektive verhält: M. zeichnet seine Analysen ja durchaus ansatzweise in einen historischen Rahmen ein, wenn er mit breitem Forschungskonsens den Ab­schluss von Dtn und Pentateuch in die späte Perserzeit datiert; in den Textanalysen drängen sich zudem immer wieder entstehungsgeschichtliche Perspektiven auf. Es lässt sich fragen, inwiefern die Beschränkung auf die Endgestalt des Dtn methodisch sinnvoll und in letzter Konsequenz möglich ist (M. selbst deutet wiederholt an, mit welchen literargeschichtlichen Modellen er seine Auslegungen verknüpfen würde, freilich ohne ausgeführte Argumente zu liefern).
Dass M. die Endgestalt des Dtn nicht konsequent als geschichtlich gewordene Größe betrachtet, zeitigt weitere Unklarheiten: Beiläufig erfährt man, dass die Auslegung auf dem MT fußt. »Dabei handelt es sich um eine hermeneutische Entscheidung für eine der Textvarianten.« (126) Was hieran »hermeneutisch« ist, wird nicht deutlich: Meint M., dass er sich bewusst in eine bestimmte Tradition der Rezeption des MT stellt? Was sind die Gründe für diese Entscheidung? M. schiebt ein historisches Argument nach: MT stelle gegenüber LXX fast durchgängig den ursprünglicheren Text dar (auch in 31,1 und 32,45; 32,8.43 werden nicht erwähnt); das mag vielfach stimmen, erweckt als Globalaussage aber den Eindruck, dass M. sich so der textkritischen Rechenschaft im Einzelfall entledigt (die im Blick auf einen perserzeitlichen Pentateuch durchaus nötig wäre, zumal bei Dtn 32). Viel gravierender ist der Verzicht auf eine konsequent historische Perspektive indes beim Umgang mit dem (masoretischen) »Kanon«, der M. als Bezugsrahmen für seine »intertextuellen« Lektüren dient: Lag dieser Kanon in der späten Perserzeit vor? Oder, falls M. das nicht sagen will, unter welchen Voraussetzungen und mit welcher Absicht liest er stattdessen den Kanon der späteren jüdischen Bibel? In diesen Zusammenhang gehört, dass M.s theologischer Standort nicht vollständig transparent wird: Wie verhält sich M.s Gegenstand, das dtn Gottesvolk, zur Tatsache, dass das Dtn Teil der christlichen Bibel wurde? (Vgl. etwa zu 31,16–29: »Was zunächst wie ein Paukenschlag zum dies irae klingt, ist in seiner tiefsten und letzten Bedeutung ein Paukenschlag zum Ostergloria. Dieses erklingt nicht am Leid vorbei, sondern durch das Leid hindurch.« [230]) Man gewinnt wiederholt den Eindruck, dass Moses Worte an Israel für M. unmittelbares religiöses Gewicht haben – was in wissenschaftlichem Kontext nicht unterdrückt werden muss, aber erläutert werden sollte, zumal bei der Auslegung eines Buches, das – wie M. eindrücklich zeigt – höchste Kunst darauf verwendet, die jeweiligen Leser zur Identifikation mit dem von Mose angeredeten Gottesvolk zu bewegen. Was bedeutet es in diesem Zusammenhang, dass M. mitunter auf das Neue Testament verweist (z. B. mit der schönen These, die Rede vom »Wort des Lebens« in 1Joh 1,1 nehme auf Dtn 32,47 Bezug [Anm. 426])? M. müsste viel klarer benennen, mit welcher theologischen Hermeneutik er an das Dtn herantritt, und zwar als Teil eines biblischen Kanons, der ihm aus einer ganz bestimmten Tradition überkommen ist.
Diese grundsätzlichen Anfragen können M.s Verdienste nicht schmälern. Sein Buch ist gefüllt mit faszinierenden, vielfach neuen Einsichten in den Aufbau und die rhetorisch-psychologische Sprachkunst des Dtn; inspirierend ist, wie M. sich in die Welt des Textes hineindenkt und zugleich konsequent nach dessen Wirkung auf implizite und textexterne Adressaten fragt.