Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2015

Spalte:

206–207

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Giercke-Ungermann, Annett

Titel/Untertitel:

Die Niederlage im Sieg. Eine synchrone und diachrone Untersuchung der Erzählung von 1 Sam 15

Verlag:

Würzburg: Echter Verlag 2010. XXIII, 276 S. m. Abb. = Erfurter Theologische Studien, 97. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-429-03223-4.

Rezensent:

Thilo Alexander Rudnig

Mit dieser Arbeit legt Annett Giercke-Ungermann die Druckfassung ihrer Dissertation vor, die von Susanne Gillmayr-Bucher betreut wurde und an der RWTH Aachen entstanden ist. In ihr steht die detaillierte Analyse der Text- und Erzählstruktur von 1Sam 15 ganz im Vordergrund, denn »[m]it dieser Arbeit wird […] vor allem ein literarischer und kein historischer Ansatzpunkt verfolgt« (2). Dem entspricht, dass trotz des Untertitels und trotz der Ankündigung, dass »endtextorientierte/synchrone und diachrone Analysen des Textes immer wieder in wechselseitiger [ sic!] Beziehung gesetzt« werden (18 f.), faktisch nur ein synchroner Textzugang erfolgt: Der »Entstehungsgeschichte der Erzählung« sind lediglich 25 der 276 Seiten umfassenden Untersuchung gewidmet, und dies kurz vor Schluss.
Inhalts- (V–VII) und Literaturverzeichnis (IX–XXIII) eröffnen die Untersuchung. Nach einer Einleitung (1 f.) bietet die Vfn. einen Überblick über zentrale Fragen der Forschung (Kapitel 1, 3–19), dessen Ergebnisse sie festhält. Sie verweist u. a. darauf, dass einerseits »[d]ie literarkritischen Untersuchungen […] zu keiner einheitlichen und befriedigenden Lösung geführt« haben (17) und dass andererseits in den synchronen Analysen die Sicht der Figur Sauls einseitig negativ ist, die Bedeutung und Funktion der ḥæræm-, also Bann-Konzeption, bisher nur ungenügend aufgearbeitet worden und schließlich nicht klar zwischen narrativen und dialogischen Passagen unterschieden worden ist. Diese Desiderate sind der Anlass für eine neue Auseinandersetzung mit dem Text. In einem »Textkonstituierung« genannten zweiten Kapitel (21–35) bietet die Vfn. eine Aufteilung des hebräischen Textes in Satzeinheiten nach Wolfgang Richter, eine Übersetzung und die Diskussion textkritischer Probleme. Außerdem wird das besondere Profil der Erzählung in der LXX aufgezeigt. Es folgen Wortschatzanalysen, die mit Graphiken zur Statistik gestützt werden, und eine eingehende Beschreibung der im Text begegnenden Wortfelder (Kapitel 3, 37–64). Die narrative Textanalyse (Kapitel 4, 65–210), die einen Großteil der Untersuchung einnimmt, erfolgt unter verschiedenen Blickwinkeln. In ihr erhebt die Vfn. die Zeit- und Raumstruktur der Erzählung, nimmt eine Handlungsanalyse sowie die Analyse von Charakter und Rollen der Figuren und der Erzählstimme vor. Das fünfte Kapitel ist einer Diskussion der alttestamentlichen ḥæræm-Konzeptionen gewidmet (215–238), und das letzte befasst sich mit der »Entstehungsgeschichte der Erzählung« (239–263). Abschließend stellt die Vfn. eine extrem kurze »theologische Reflexion« an (7, 265–271) und liefert im Anhang (8, 273–276) Übersichten zu den literarischen Entstehungsmodellen, den Lexemvorkommen, der Verteilung der Wortfelder und den Handlungsträgern.
Bereits im Referat des Inhalts wird die Problematik der Untersuchung deutlich. Sie sammelt eine Vielzahl durchaus zutreffender Beobachtungen, doch leider fehlt deren Auswertung zu einer These. Gerade im dritten und vierten Kapitel, also im Hauptteil, begegnet viel Paraphrase und Textbeschreibung auf wissenschaftlichem Niveau sowie viel Analyse, deren Sinn nicht durch exegetische Ergebnisse nachvollziehbar gemacht wird. Auch die Zusammenfassungen der Analyseschritte zeigen diese Unsicherheit im Ziel, so etwa, wenn als Ertrag einer fast 150 Seiten umfassenden narrativen Textuntersuchung die abschließende Gliederung von 1Sam 15 vorgestellt wird. Zu fragen ist hier weiterhin, wie sinnvoll derart breit angelegte Analysen der Lexeme sowie der Text- und Erzählstruktur scheinen, wenn noch keine Erkenntnisse zum Wachstum der Texte vorliegen. Und gerade in diesem Punkt hätte sich der Leser mehr gewünscht. Für die Erhebung literarischer Nachbearbeitungen führt die Vfn. in ihren Vorüberlegungen »verschiedene inhaltliche und erzähltechnische Kriterien« (240) an; dass aber bei der Literar- und Redaktionskritik in erster Linie sprachliche Kriterien ausschlaggebend sind, scheint sie zu ignorieren. Eine vergleichbare methodologische Problematik zeigt sich in der textkritischen Arbeit, wenn die Vfn. definiert: »Ziel ist es, mit Hilfe der Textkritik eine lesbare und verständliche Textform des ausgewählten Textzeugen vorliegen zu haben, und nicht eine ursprüngliche Textfassung von 1Sam 15 zu rekonstruieren« (27): Damit wird vor Beginn der Arbeit die Richtung des Ergebnisses festgelegt! Was die Literarkritik im Einzelnen angeht, unterbleibt leider eine ausführlichere Auseinandersetzung mit den literarischen Modellen, die die Vfn. zitiert (14–19.273). Sie selber erhebt in V. 28.35a Ergänzungen, die die Erzählung in größere Kontexte einbetten, sowie in V. 18b* (nur »die Sünder«).23a.29 theologisierende Bearbeitungen. Damit ist 1Sam 15 für sie im Wesentlichen ein einheitlicher Text. Er wurde im Rückgriff auf unterschiedliche mündliche und schriftliche Überlieferungen in exilischer oder frühnachexilischer Zeit verfasst, stammt aus prophetischen Kreisen im Umfeld der dtr Bewegung und liefert ein Erklärungsmodell für das Scheitern des Königtums, vor dessen Restitution er zugleich warnt.
Die Ergebnisse, die die Vfn. zum Bannbegriff erzielt, bleiben ganz im Vagen. Sie rechnet mit zwei unterschiedlichen (im Text nicht explizierten) Konzeptionen, die sich in den abweichenden Auffassungen Samuels und Sauls zeigen, sich aber nicht in die Bannkonzepte integrieren lassen, die in der bisherigen Forschung erarbeitet wurden. Dass sich schließlich die theologische Reflexion der Arbeit auf sechseinhalb Seiten beschränkt, ist signifikant.
Leider werden in der Untersuchung viele Fragen, die angesichts der Forschungslage zum Samuelbuch interessieren, nicht diskutiert: Welche narrative Funktion etwa hat 1Sam 15 im Ablauf des Samuelbuches? Sagen die Ergebnisse zur Wortstatistik nicht auch etwas über ein mögliches Textwachstum? Was für eine Konzeption des Königtums drückt sich im Text aus? Eine Antwort auf die Frage, welche Bedeutung die ausgiebigen narratologischen Analysen des Textes für die Exegese des Samuelbuches und für die alt-tes­tamentliche Wissenschaft haben, erwartet der Leser leider vergeblich.