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Ausgabe:

Januar/2015

Spalte:

99–101

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Brosow, Frank, u. T. Raja Rosenhagen [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Moderne Theorien praktischer Normativität. Zur Wirklichkeit und Wirkungsweise des praktischen Sollens

Verlag:

Münster: mentis Verlag 2013. 378 S. = Perspektiven der Analytischen Philosophie. Kart. EUR 58,00. ISBN 978-3-89785-226-6.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

Die Frage der praktischen Normativität wird spätestens seit der Formulierung des Humeschen Gesetzes, nach dem Soll-Sätze aus Ist-Sätzen nicht abgeleitet werden können, sehr heterogen und komplex diskutiert. Es ist die Intention des hier vorzustellenden Bandes, die Vertreter verschiedener Konzeptionen der Ethik in einen konstruktiven Dialog zu bringen, und zwar »vor allem mit Blick auf die Frage nach der Wirklichkeit und Wirkungsweise des praktischen Sollens« (9).
Die Herausgeber eröffnen die Diskussion mit Peter Stemmers Beitrag »Die Konstitution der normativen Wirklichkeit« (25–35), der das moralische Müssen einer Kooperation derjenigen Personen entspringen sieht, die gegenseitige Freiheitsverzichte und Handlungsbeschränkungen als vernünftig erkennen. Der hier gewählte kontraktualistische Ansatz präferiert oder negiert bestimmte Handlungen interessengebunden und rational. Die derart formulierbare Norm zeigt auf, was man moralisch tun muss, wozu man verpflichtet ist. Es geht in dieser metaphysikfreien Auffassung darum, dass jede kooperierende Person unter Androhung von Sanktionen die eigenen basalen Interessen verfolgen kann, ohne andere zu behindern.
Auf Stemmers Minimalkonzeption praktischer Normativität folgen drei Beiträge, die den Sachverhalt des praktischen Grundes untersuchen. Ralf Stoecker reflektiert, was es heißt, aus Gründen zu handeln (35–58). Das Handeln basiert in seinem Modell auf einer »öffentlichen kommunikativen Praxis des Überlegens darüber, was zu tun ist«, womit er einen »normativen Druck« (57) erzeugt sieht, Handlungsgründe benennen zu können. Im Gegensatz zu Stoecker verteidigt Nico Scarano die traditionelle Motivationstheorie (59–74) mit folgendem Ergebnis: Ein »motivierender Handlungsgrund ist genau dann gut, wenn zum einen die Wertung angemessen und zum anderen die Meinung über die Handlung wahr ist« (73), womit die Bedeutung von aus guten Gründen zu handeln verständlich gemacht wird. Auch Christoph Halbig verteidigt in seinem Beitrag »Über die Möglichkeit teuflischen Handelns« (75–93) die klassische Handlungstheorie, indem er aufzeigt, dass sie mit Fällen teuflischen Handelns, die also gerade wegen ihrer Schlechtigkeit ge­wählt werden, umgehen kann.
Die durch Halbig angesprochene Frage nach dem Verhältnis von Werten respektive Unwerten und praktischen Gründen wird in den beiden folgenden Beiträgen von Sabine A. Döring (94–123) und Felicitas Krämer (124–140) aufgenommen. Beide reflektieren auf den Sentimentalismus. Für Döring hält eine sentimentalis-tische Werttheorie die Möglichkeit einer Vermittlung von praktischer Rationalität und Modernität bereit. Dagegen fragt Krämer nach der »Normativität im Neosentimentalismus« (124). Hier werden moralische Urteile nicht subjektiv und expressiv aufgefasst wie im Emotivismus, sondern als sozialstabile Urteile über deren Angemessenheit. Beide Beiträge weisen darauf hin, dass Werte sowohl durch die Attribute der jeweiligen Objekte als auch durch die emotionale Reaktion der handelnden Subjekte konstituiert werden.
Wenn das praktische Sollen also aus verschiedenen Perspektiven wahrgenommen werden kann, fragt sich, was dann der Sachverhalt der Normativität bedeutet. Diese schwierige Problematik gehen die acht folgenden Beiträge an, und zwar jeweils zwei aus der Perspektive der aristotelischen, kantischen, humeanischen und pragmatistischen Theorietradition.
In seinem Aufsatz »Praktische Normativität und aristotelische Notwendigkeiten« (141–163) kritisiert Thomas Hoffmann die Position des auch von Stemmer vertretenen instrumentellen Präferentialismus, der das normativ Geforderte nur akteurrelativ formuliert, aber nicht die Qualität von Handlungszielen beurteilen kann. Um dies zu tun, rezipiert Hoffmann die von Elizabeth Anscombe so bezeichneten »aristotelian necessities« (142), die das praktisch rational und normativ Geforderte aus den Normen ableiten, die sich aus den natürlichen Notwendigkeiten der Lebewesen ergeben und somit natürlicherweise gut sind. Bernward Gesang diskutiert die Problematik moralischer Entscheidungsfindungen (164–191) und stellt dem moralischen Partikularismus mit seiner fallweise agierenden Urteilskraft die generalistischen Prinzipienethiken gegenüber. Er selbst plädiert in Aufnahme von »R. M. Hares Zwei-Ebenen-Modell der Moral« (186) für einen moderaten Generalismus, der auf der ersten Ebene der intuitiven Moral zur konkreten Entscheidung findet, die auf der zweiten Ebene der kritischen Moral gerechtfertigt wird. So ergänzen sich bewährte Prinzipien mit ihrem Vorteil schneller Anwendbarkeit und kritischer Prüfung, wenn Zweifel an deren Anwendungen bestehen.
Die kantische Theorieposition wird von Herlinde Pauer-Studer (192–212) und Heiner F. Klemme (213–229) vertreten. Für Pauer-Studer begründet der kantische Kontraktualismus die grundlegenden Standards der Moral, nämlich die wechselseitige Anerkennung, angemessen. Wichtig ist ihre Zurückweisung von Kants Gleichsetzung von autonomem und moralischem Handeln, denn dies macht »die Zuschreibung schlechten Handelns zum autonomen Willen des Subjekts« (208) unmöglich. Stattdessen schlägt sie zwei Ebenen der Konzeption der Autonomie vor und kann so die Autonomie einmal dem moralischen Willen und andererseits der kritischen Sicht auf das eigene Tun assoziieren. Klemme stellt das Verhältnis von Menschenwürde und Menschenrecht zunächst an modernen Positionen dar und kommt durch seinen Rückbezug auf Kant zu dem Ergebnis, dass die Menschenwürde durch die reine Vernunft gestiftet wird. »Die Würde des Menschen verfehlt, wer nicht aus Achtung, sondern aus anderen Motiven das tut, was das Moralgesetz von uns verlangt […]. Die Grundlage des positiven Rechts kann nach Kant nur […] das ›Recht der Menschheit‹ in mir« (224) sein und verpflichtet die Person, in Gesellschaft mit anderen Personen, auf den bürgerlichen Zustand, in dem niemand zum Mittel von Willkür gemacht wird.
Frank Brosow knüpft an die Philosophie David Humes an (230–261), um die These des moralischen Realismus zu widerlegen, »nur die Idee moralischer Tatsachen liefere uns ein befriedigendes Konzept richtiger moralischer Urteile« (230). Er arbeitet heraus, dass sich von Hume aus ein antirealistisches Konzept praktischer Normativität bilden lässt, ohne in einen Relativismus abzugleiten. Ein solches »intersubjektivistisches Konzept praktischer Gründe« (239) leitet Brosow aus Humes Affektenlehre her, die nicht akteurszentriert ist, »sondern mittels des empirischen Prinzips der Sympathie von einem Subjekt auf andere übertragen werden« (241) kann und infolge verschiedener Handlungsmöglichkeiten zur Vorstellung eines allgemeinen Nutzens oder Schadens führt. Daraus entsteht »ein ruhiger Affekt, der in seiner Funktion als überindividueller, normativer Maßstab« (245) dem Akteur Handlungsimpulse vermittelt und Beobachtern seiner Handlung positive oder negative Urteile. Anton Leist fragt nach der Bedeutung der Moral (262–296) und beantwortet sie zustimmend mit Humes Konzeption der praktischen Vernunft, für die »eine Art praktischer Fallibilismus« (294) gilt – ähnlich dem wissenschaftlichen Erkennen ist es mühsam, das Richtige herauszufinden.
T. Raja Rosenhagen kritisiert Stemmers Konzeption der Normativität (297–328), »da sie kein Bild liefert, in dem wir uns als Wollende und als uns auch am für andere Guten Orientierende wiederfinden können« (299), und betont mit Robert Brandom die soziale Praxis. Diesen Aspekt führt Ludwig Siep in seinem Beitrag »Norm­erzeugende Praxis« (329–345) fort. Das Entstehen von Normen sieht er einmal durch einen Prozess des Sich-Einspielens und dessen nachfolgender Explizitmachung gegeben sowie durch das Ent-decken nachahmenswerter Verhaltensweisen. »Der moralische Standpunkt […] entsteht aus sozialen Formen der wechselseitigen Rechtfertigung und der Suche nach dem objektiv Richtigen und Wertvollen« und kann als »Resultat eines gemeinsamen Lernprozesses« (342) einer moral community bezeichnet werden.
Im letzten Beitrag des Bandes fragt Matthias Wunsch nach der Bestimmung der intellektuellen Redlichkeit (346–370), einem Thema, das in einem Diskurs zur Normativität eine wichtige Bedeutung hat und damit einen guten Abschluss des Bandes darstellt, der die ganze Breite der aktuellen Diskussion aufnimmt und darin eine wichtige Publikation darstellt.