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Ausgabe:

Dezember/2014

Spalte:

1492–1494

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hogrebe, Wolfram

Titel/Untertitel:

Metaphysik und Mantik. Die Deutungsnatur des Menschen (Systeme Orphique de Iena). 2., verb. u. um e. Vorwort erg. Aufl.

Verlag:

Berlin: Akademie Verlag 2013. 311 S. Geb. EUR 49,95. ISBN 978-3-05-006480-2.

Rezensent:

Lukas Ohly

Der Band ist eine Neuauflage des 1992 erschienenen Buches, in dem Wolfram Hogrebe eine verschüttete Dimension der Philosophie freilegen möchte. Bei dieser sehr generellen Unternehmung hat H. allerdings den Diskurs seit der ersten Auflage nicht mehr eingearbeitet. Die Überarbeitung der zweiten Auflage beschränkt sich weitgehend auf ein umfangreiches Vorwort. Der Band hätte mit Hilfe aktueller philosophischer und theologischer Entwicklungen noch gestärkt werden können. Aber auch in dieser weitgehend unveränderten Fassung handelt es sich um einen gegenwärtig relevanten, lesenswerten und unterhaltsamen Band, der Einspruch gegen reduktionistische Konzepte erhebt, die auf eine vorschnelle Eindeutigkeit setzen, und auch in nachmetaphysischen Entwürfen eine Metaphysik der Eindeutigkeit erkennt (namentlich in Theorien des kommunikativen Handelns, 32, der Philosophie Husserls, 30 f., oder des linguistic turn, 184).
H. hält dagegen, dass der Mensch zunächst unbestimmt empfindet, bevor er Gegenstände bestimmt (32 f.). Gegen die sprachphilosophische These, dass der Mensch nur durch Sprache Be­wusstsein entwickelt, setzt H. auf Phänomene, »wo es uns die Sprache verschlägt« (184), »wo wir in diffusen Sachlagen […] allein gelassen sind« (33). Der Begriff der »Mantik« wird somit zunächst als Gegenbegriff zur Semantik entwickelt (33), um ihn dann konstruktiv auf Phänomene von »zeichenlosen Ahnungen« (ebd.) zu beziehen. Das Buch möchte Phänomene ausfindig mac­hen, die sich in der »semantischen Unterwelt« (43) befinden und die daher nur »subsemantisch« (121.186) geahnt werden können (zum Begriff der Ahnung 33.43. 133.187 f.212.273). Gegen eine klassische Metaphysik, die Essenzen fassen will, verfolgt H. »die Idee der Metaphysik in ihrem Anspruch auf eine Theorie des mantischen Zwischenbereichs« (36).
Beispiele solcher mantischer Phänomene sind Wolkenbildungen, denen wir nach und nach Gestalten abgewinnen (69), »sinnlose Wortfolgen und Satzfetzen« (45), denen plötzlich doch Sinn zuwächst (ebd., 51), der unbestimmte Antrieb, von dem her sich Begriffsbildungen entwickeln (60), und ebendie Fähigkeit, etwas auf subsemantischer Ebene zu ahnen. Bestimmt gäbe es noch deutlichere Beispiele oder klarere Analysen solcher Phänomene, die H. zudem weitgehend anderen Autoren entlehnt. Obwohl sich sein Thema einer phänomenologischen Besprechung geradezu anempfiehlt – denn semantisch kommt man eben zu spät –, ist sein phänomenologischer Impetus nicht sehr nachdrücklich. Eher weicht er auf philosophiegeschichtliche Exkurse aus, die gegen Ende des Buches als Rohentwurf einer Genealogie der Mantik deutlich zu­nehmen (ab 223).
Da H. im Ergebnis eine mantische Deutungsnatur des Menschen aufweisen möchte (220.238.256), wäre eine klarere phänomenologische Untersuchung von Ahnungen, Intuitionen und sub-semantischen Schlüssen überzeugender gewesen als eine genealo-gische Skizze, die zudem unvollständig ist und weitgehend auf Unterstützung paralleler Denkentwicklungen des 20. Jh.s verzichtet. Geistig Verwandte wie Jacques Lacan, Hermann Schmitz, Rudolf Otto oder Charles Peirce werden mit keiner Silbe erwähnt.
Anscheinend lässt H. seine metafisica povera (Kapitel I) durch alle philosophischen Disziplinen durchlaufen, um sie an ihnen zu bewähren. So enthält der Band anthropologische (15.18.220.238), erkenntnistheoretische (Kapitel II), subjekttheoretische (134–149), wissenschaftstheoretische (Kapitel V), logische (139–145.283–286), ontologische (Kapitel IV), kosmologische (15.56) und zeichentheoretische (14.87.287) Aspekte. Dabei belässt H. bewusst in der Schwebe, ob er die mantische Verfasstheit der Wirklichkeit oder des Denkens darstellen möchte. Der Begriff der »Deutungsnatur« enthält offenbar eine absichtliche Unbestimmtheit in dieser Frage: Eine » bewußtseinsunabhängige Welt« (143) ist zwar immer erst das Zweite. Allerdings sind vorbewusste Eindrücke und Wahrnehmungen »nicht unser Eigentum« (ebd.). »Unsere Deutungsnatur geht unserer Deutungskultur voran« (65). Da H. die menschliche Subjektivität der Deutungskultur zuschreibt, die ein Meinen im Sinne geistiger Aneignung impliziert (134.148), ist das mantische Denken von »Natur« aus nicht einfach subjektiv. Vielmehr ist offenbar in der »Natur« schon »Geist« gegeben (154), ohne dass er von jemandem gehabt wird. Die Deutungsnatur ist also unbestimmt »unsere«, weil sie zur Natur gehört.
Die Kategorien einer metafisica povera sind das Unbestimmte (35), Indiskrete (175), Unsichtbare (258) bzw. Dämmernde (43; vgl. 51.214 f.). Hierzu gehört auch der Begriff des »Pronominalen«, der als Gegenbegriff zum Nominalen entwickelt wird (35.49.69). Interessanterweise umschreibt H. das Pronominale nur, anstatt es als zentrale Kategorie zu schärfen. Dadurch hält er auch den Raum für Pronomina überraschend weit: Schon das Wort »irgendetwas« sei ein Pronomen (64), nämlich um zu markieren, dass alles »auf irgendetwas hin« ausgerichtet sei (ebd.). H. hält Pronomen vor dem Nomen für das genealogisch Erste in der Metaphysik (69) und in einer Bewusstseinstheorie: Bevor ich bin, ist etwas für mich oder »mein«: »Jedermann ist irgendeiner und da ist niemand, der nicht schon irgendeiner war, bevor er er oder ein anderer wurde« (141). Sprachgeschichtlich werde dies dadurch belegt, dass Possessivpronomina älter seien als Personalpronomina (149).
Subjektivität wird in diesem Sinne aus einer ursprünglichen »Meinigkeit« entwickelt, die sich wiederum anscheinend aus einem unbestimmt-intersubjektiven »Meinen« ausrollt: Wenn »Meinen ein Operieren mit Informationen« (134, Herv. W. H.) ist, aber Meinen auch von irgendeinem anderen gehabt werden kann (141), dann ist das Bewusstsein »als pronominalisiertes Bewußtsein eine offene Registratur« (ebd., Herv. W. H.). Meinigkeit ist also wesentlich intersubjektiv (144). Ob sie zur Meinigkeit eines Ich wird, muss sich dagegen »im Vollzug bewähren« (144).
Richten sich damit mantische Erfahrungen nicht generell auf Vollzüge, Ereignisse (47.54), auf Plötzliches (69), Begegnungen (54) und Widerfahrnisse? Wenn »wir mit mantischen Deutungen auf eine mutmaßliche Eindeutigkeit des Vieldeutigen« setzen (192), kann sich dann eine solche Eindeutigkeit nicht immer nur im Vollzug ereignen? In der Tat beschreibt H. Zwischenereignisse, die weder objektiv noch subjektiv erzwingbar (46.89.109), sondern beiden transzendent sind.
Könnte damit das Mantische schließlich eine theologische Referenz haben? H. benutzt durchgehend theologische Metaphern. Allerdings wird die Theologie geistesgeschichtlich als prominente Kritikerin der Mantik unter Verdacht gestellt (238–251). Wenn sich jedoch Ereignisse vollziehen, die »nicht in der Macht der Sprecher, nicht in der Macht der Sprache, nicht in der Macht der Welt« liegen (47), wird nicht dann damit eine schöpferische Transzendenz ausgemacht? M. E. verfehlt H. eine wichtige Pointe, wenn die »mantische Pfingstlichkeit« (254, Herv. W. H.) angeblich »der privilegierten Spiritualität einer Offenbarungsreligion nicht bedarf, sondern in der condition humaine […] verankert ist« (ebd., Herv. W. H.). Man-tische Zwischenereignisse können nämlich nur widerfahren oder sich einstellen (so auch 54.79.84). Da zudem die Deutungsnatur des Menschen mit dem Geist der Wirklichkeit verbunden ist, kann Offenbarung nicht wie in diesem Zitat anthropologisch reduziert werden.