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Ausgabe:

Dezember/2014

Spalte:

1420–1422

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Heuser, Andreas, Hoffmann, Claudia, u. Tabitha Walther [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Erfassen – Deuten – Urteilen. Empirische Zugänge zur Religionsforschung.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2013. 416 S. = Christentum und Kultur, 13. Kart. EUR 38,50. ISBN 978-3-290-17707-2.

Rezensent:

André Ritter

Wie kann man Religion rekonstruieren und messen? Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus Theologie und anderen religionsbezogenen Disziplinen wie Religionswissenschaft, Psychologie oder Pädagogik beschäftigen sich zunehmend mit spezifischen empirischen Zugängen zu religiösen Themen. Der vorliegende Band vereint neuere Arbeiten aus dem Schweizer Kontext und grundsätzliche Beiträge mit empirischem Zugang zu religionsbezogenen Fragestellungen und ermöglicht damit einen Einblick in diesen Zweig der Religionsforschung, was in den Beiträgen von David Atwood, Martina Bär, Gabriela Brahier, Helga Dickow, Angel Eduardo Román López Dollinger, Daniel Frei, Barbara Heer, Cornelia Helfferich, Andreas Heuser, Claudia Hoffmann, Stefan Huber, Esther Imhof, Stephanie Klein, Detlef Lienau, Tommi Mendel, Christoph Morgenthaler, Genevieve Nrenzah, David Plüss, Carsten Ramsel, Carl Sterkens, Jörg Stolz, Nadja Troi-Boeck, Tabi-tha Walther, Christian Walti auf vielfältige Weise dokumentiert wird.
Bereits in der Einleitung wird deutlich, dass der vorliegende Sam­melband sich »als Ausstellungsbühne religionsbezogener empirischer Forschung« zu verstehen sucht: »Er fächert nicht allein eine Bandbreite an empirischen Forschungssträngen auf, deren Relevanz sich einer vorwiegend nachwachsenden Forschungsgeneration in ganz verschiedenen religiösen Kontexten und anhand einer Vielfalt an Forschungsprojekten erweist. Vielmehr ermöglicht der anwendungsorientierte Ansatz, der die Zusammenführung der Beiträge anleitet, eine vertiefte grundsätzliche Auseinandersetzung mit den analytischen Möglichkeiten wie den metho-dischen Fallstricken religionsbezogenen empirischen Forschens.« (20 f.) Dieses Anliegen kommt in den verschiedenen Beiträgen je­weils unterschiedlich zum Ausdruck.
So benennen und bewerten zum Beispiel Christoph Morgenthaler, David Plüss und Carl Sterkens in ihrem gemeinschaftlichen Rückblick auf das Nationale Forschungsprogramm (NFP 58: »Religionen, Staat und Gesellschaft«) die Frage einer zunehmenden Pluralisierung und Säkularisierung in der Schweiz dahingehend, dass Anliegen und Aufgaben einer empirischen Religionsforschung heute mehr denn je auch und gerade vor die Frage nach dem öffentlichen Stellenwert von Religion respektive Religionen überhaupt stellt. Und sie zitieren in diesem Zusammenhang die US-amerikanische Religionswissenschaftlerin Ann Taves aus Chicago in einer Übersetzung von Christian Walti: »Indem wir Definitionen festlegen, anerkennen und umgehen wir zugleich stillschweigend ein grundlegendes Problem, das uns beunruhigt: die historische Instabilität unseres Forschungsgegenstandes. Was wir und die von uns (untersuchten) Subjekte als Religion, als Religionen, als Traditionen, als das Heilige, als Magie, das Okkulte, Aberglaube, Volksglaube, Fetisch und so weiter bezeichnen, transportiert implizit Vorstellungen davon, was wertgeschätzt wird oder werden sollte.« (59) In Frage steht damit aber nicht allein der jeweils verwendete Begriff von Religion und Religionen, sondern zugleich auch das Selbstverständnis von (kirchlich-konfessioneller) Theologie als Wissenschaft von Religion, mindestens in seiner bisherigen Ausprägung und Ausrichtung im europäischen Kontext.
Dieser (selbst-)kritisch konstatierte Sachverhalt wird auch dadurch deutlich, dass das Team der Herausgebenden dieses Sammelbandes selbst wiederum ein entsprechend orientiertes Profil dieser Fragestellung repräsentiert: So ist die Aufnahme von An-dreas Heuser, Professor für Außereuropäisches Christentum an der Theologischen Fakultät der Universität Basel (mit Schwerpunkt globale Pfingstbewegung und afrikabezogene Religionsforschung), und von Claudia Hoffmann, Pfarrerin und zugleich Assistentin für Außereuropäisches Christentum an der Theologischen Fakultät der Universität Basel (mit Schwerpunkt südostasiatische Religions- und Missionsgeschichte), wohl schon deshalb nicht zufällig, als bekanntlich die empirische Religionsforschung ursprünglich der empirischen Missionswissenschaft entstammt (vgl. dazu auch 32 ff.). Doch bislang ist dieser Sachverhalt weitgehend unbeachtet geblieben, wie bereits einführend konstatiert wird (12).
Vor diesem Hintergrund stellt sich im Zuge einer bilanzierenden Bewertung der Ergebnisse von NFP 58 dann allerdings auch die Frage nach dem genuinen Beitrag, den die Theologie als Wissenschaft mit Blick auf empirische Religionsforschung gegenwärtig zu leisten bereit und im Stande ist: »Die Existenz der Theologie als akademische Disziplin ist zwar kaum allein von der Fähigkeit abhängig, in einem solchen Programm mitwirken zu können. Aber es hat gewiss Auswirkungen auf die Theologie, ob sie als würdig und fähig angesehen wird, zu einem besseren Verständnis der Religion in gegenwärtigen europäischen Gesellschaften beizutragen. Die drohende Marginalisierung der Theologie, sogar im Bereich ihrer hauptsächlichen Forschungskompetenz, zwingt die theologischen Disziplinen, sich in neuer Weise zu positionieren. Die Fähigkeit zu empirischer Forschung ist eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür, mit eigenen Projekten in Forschungsprogramme wie das NFP 58 aufgenommen zu werden.« (71)
Das stellt die eine Seite der in dem vorliegenden Sammelband dialogisch erörterten Fragestellung dar. Die andere Seite wiederum ist nicht weniger wichtig und betrifft nun die empirische Religionsforschung selbst – insbesondere ihre Begründung und ihre Reichweite, wie beispielsweise der Beitrag von Cornelia Helfferich (Sozialwissenschaftliches Frauenforschungsinstitut, Evangelische Hochschule Freiburg i. Br.) aus Sicht der empirischen Sozialforschung kenntlich macht. Ihr Ansatz entspricht nach eigenem Bekunden einer »methodologischen Grundhaltung, die wenig von der strengen Verpflichtung auf den normativen Regelkodex einer und nur einer Forschungsschule hält, dafür aber mehr davon, sich der Forschungsfrage selbst sowie der Passung zwischen der Forschungsfrage und den methodischen Elementen immer neu zu vergewissern und kriterien- bzw. dimensionsgeleitet über Forschungsdesigns zu entscheiden« (74). Dabei seien grundsätzlich voneinander zu unterscheiden: 1. die Haltung zum Forschungsgegenstand, 2. die Reduktion von Komplexität, 3. die Frage der Verallgemeinerbarkeit und 4. der Umgang mit Subjektivität sowie die Vermeidung von Beliebigkeit (ebd.). Quantitative oder qualitative Forschung? Repräsentativität oder Repräsentanz? Auf welche Weise »Wirklichkeit« jeweils angemessen erforscht wird, ist letztlich eine Frage der dialogischen Verständigung über Forschungsgegenstände, Methodenkombinationen und Kooperationsmöglichkeiten im Rahmen empirischer Forschung (vgl. dazu 84 f.).
Was der erste (grundlegende) Teil des Bandes als Diskurse und Methoden der empirischen Religionsforschung bezeichnet und behandelt hat, das wird in den daran anschließenden Teilen dann jeweils auf konkrete Fallstudien bezogen: 1. Identität: Kontext – Selbstreflexion – Urteilsfindung, 2. Raum: Urbanität – Mobilität – Kultstätte, 3. Medien: Bild – Film – Text. Nicht nur die verschiedenen Ebenen dieser Fallstudien, sondern auch ihre jeweiligen Kontexte und Profile sind unterschiedlich. Doch gemeinsam sind ihnen allen wohl der sich von vornherein selbst beschränkende Fragehorizont sowie die – damit einhergehend – über sich selbst hinausweisenden (vorläufigen) Untersuchungsergebnisse. Wie im­mer man den für diesen Sammelband ausgewählten Fallstudien gegenübersteht, beeindruckend ist und bleibt in jedem Fall ihre große Bandbreite, die beispielsweise von »Hospital Chaplaincy in a Multi-Faith Society« (Tabitha Walther) und »Bewegte Religion – Eine Interview-Studie zur religiösen Erfahrung von Pilgern« (Detlef Lienau) über »Networks of African Migrant Churches in Basel« (Daniel Frei) sowie »Bildfragmente und Segmentanalyse eines To­tenfestes in Indonesien. Einblicke in eine Werkstatt« (Claudia Hoffmann) bis hin zu »Dynamische Feldsituationen mit der Kamera beschreiben: Ein Forschungsbericht« (Tommi Mendel) und »Die Re­ligion der Anderen. Zur Diskursgeschichte der frühen Religionfor­schung« (David Atwood) reicht und ein nicht nur in thematischer, sondern auch in geographischer Hinsicht breit gefächertes Spektrum dokumentiert. Eine anspruchsvolle Lektüre, die sich zweifelsohne lohnt.