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Ausgabe:

November/2014

Spalte:

1355–1357

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Henkys, Jürgen

Titel/Untertitel:

Dichtung, Bibel und Gesangbuch. Hymnologische Beiträge in dritter Folge.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014. 308 S. m 14 Abb. = Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie, 79. Kart. EUR 59,99. ISBN 978-3-525-62425-8.

Rezensent:

Elke Axmacher

Mit dem Band »Dichtung, Bibel und Gesangbuch« setzt Jürgen Henkys die Reihe der »Hymnologischen Beiträge«, die er 1980 und 1999 (»in neuer Folge«) herausgegeben hat, »in dritter Folge« fort, und dies nicht nur nach der Zahl, sondern auch hinsichtlich der Arbeitsgebiete, Themen und Formen. So findet sich eine Studie über Jochen Klepper bereits im ersten Band (»Das Kirchenlied in seiner Zeit«); der zweite Band (»Singender und gesungener Glaube«) enthält sechs Klepper gewidmete Arbeiten, und der jetzige Band noch einmal drei. Ähnlich kontinuierlich hat H. über Paul Gerhardt, Dietrich Bonhoeffer und Matthias Jorissen unter hymnologischem Aspekt gearbeitet (also einschließlich der Melodien; diese allerdings im Umfang deutlich den Textanalysen nachgeordnet); auch geht es immer wieder um Themen aus dem ureigensten Arbeitsgebiet H.s, der Übertragung von Kirchenliedern aus fremden (vorwiegend nordischen) Sprachen ins Deutsche zur Erweiterung einer Liederökumene, die mit dem Namen Henkys inzwischen untrennbar verbunden ist.
Der Umgang mit Dichtung ist auch in der Prosasprache der wissenschaftlichen Texte dieses Bandes hörbar. Der anschauliche, klare Stil verdichtet sich am Ende mancher Texte zu hochkonzentrierten Sentenzen. Andererseits schafft der häufige Verzicht H.s auf wissenschaftliche Anonymität eine willkommene Nähe zum Leser. Eine weitere Eigentümlichkeit von H.s Arbeitsweise besteht darin, dass er oft exemplarisch vorgeht. So hat er etwa in dem Vortrag über »Lieder in Bonhoeffers Haft. Paul Gerhardt, Gottfried Arnold und die ›guten Mächte‹« nur zwei Lieder herangezogen, diese aber so intensiv in ein »Mosaik der Beziehungen und Begründungen« (197) aus Historie, Theologie und Biographie eingefügt, dass die vom Titel gestellte Aufgabe damit überzeugend erfüllt war. Gleiches gilt von den meisten anderen exemplarisch vorgehenden Arbeiten. Die Exempel sind so ausgewählt und ausgedeutet, dass der Schritt in die Verallgemeinerung sich nahelegt und die Gesamtdeutung einleuchtet.
Die Beiträge des Bandes, deren formale Spannweite vom Ge­meindevortrag bis zu hermeneutischen Grundfragen der Kirchenliedforschung reicht, sind auf fünf Kapitel verteilt. Das erste, »Von Luther bis Zinzendorf«, betrachtet Luthers Tauflied in der Beziehung zu seinen anderen Tauftexten. Aus der Liedanalyse ergibt sich H. zufolge die Notwendigkeit »neuer Tauflieder, die sich dem Ab­gleiten der Taufverkündigung aus dem zweiten und dritten Glaubensartikel (Von der Erlösung, Von der Heiligung) in einen isolierten ersten Artikel (Von der Schöpfung) widersetzen« (17).
Der folgende Beitrag »Zum Königsberger Kirchenliedschaffen in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts« bietet einen kurzen, informativen Einblick in das von dem Dichterkreis bestimmte »literarisch-musikalische Leben in Königsberg« (24). Gewürdigt wird besonders Georg Weissels Lied »Such, wer da will, ein ander Ziel« mit der Melodie von Johann Stobäus (29 ff.).
Die vier in diesem Kapitel abgedruckten Paul-Gerhardt-Bei-träge, alle entstanden anlässlich des 400. Geburtstags des Dichters 2007, sind verschiedenen Bereichen der Gerhardt-Forschung zuzuordnen: Es finden sich sachliche Referate zu historischen, biographischen, sprachlich-literarischen Gegebenheiten, dies vor allem in dem Vortrag »Paul-Gerhardt-Rezeption und Gesangbuchgeschichte«; die gründliche Liedanalyse, hier vertreten durch die Gesangbuch-Rezeption des Liedes »Nun ruhen alle Wälder« – denn: (Ge­sangbuch-)»Herausgeber sind Erstrezipienten« (46); Erforschung und Auswertung von Quellen für seine Lieder – dies vor allem in den beiden Vorträgen »Zur Rückbindung der Lieder Paul Gerhardts an Luther und die Bekenntnisschriften« und »›Breit aus die Flügel beide‹. Zur literarischen Stellung und zum Traditionshintergrund der letzten Strophen von Paul Gerhardts Abendlied«. Eine »Nachbemerkung« zum vorletzten dieser Beiträge macht auf die Gefahr einer Überbewertung des Philologischen und Theologischen in der Paul-Gerhardt-Forschung aufmerksam. »Wichtiger bleibt Gerhardts kreativer Umgang mit der Tradition.« (71) Diesen Umgang aber stellt H. nicht in einen Gegensatz zur Forschung, sondern versteht ihn als ein »Singen und Sagen, in dem die Liedkunst das verpflichtend Überlieferte nicht einfach bewahrt, sondern freisetzt und beflügelt.« (71)
Ein grundgelehrter Aufsatz über »Das Frontispiz des Berthelsdorfer Gesangbuchs und seine Deutung durch N. L. von Zinzendorf« erfreut durch die sorgfältige Beschreibung der Abbildungen und der Interpretation des Zinzendorf-Gedichts, bereitet aber einige Schwierigkeiten bei der Zusammenschau der Embleme, die H. voraussetzt (82).
Drei Beiträge, die aufeinander bezogen sind, bilden das zweite Kapitel unter der Überschrift: »Matthias Jorissen und der deutsche Liedpsalter«. Überraschend kommt Jorissens Neutextierung des Genfer Psalters als ein Werk der Aufklärung in den Blick, das von der Psalmenübersetzung Moses Mendelssohns abhängig ist. Das Schlusswort, mit dem H. diese Entdeckung eines »Ehrenplatzes« für den jüdischen Philosophen kommentiert, gehört zu den gültigen Formulierungen, die seitenlange Erklärungen ersetzen.
Im dritten Kapitel kommen Jochen Klepper, Dietrich Bonhoeffer und Hans von Lehndorff als die »Stimmen aus dem 20. Jahrhundert« zu Wort. Dass H. zu Klepper ein eher zwiespältiges Verhältnis hat, fordert ihn gerade heraus zur eindringlichen Annäherung an seine Lieder und zur Würdigung dessen, was er »das Rätsel seiner geistigen Welt« nennt: »die eigentümliche Verschränkung von Luthertum, Preußentum und Judentum« (164). Und wo dies diffamiert wird wie in zwei Einaktern von Rolf Hochhuth über Klepper, da verwahrt H. sich scharf gegen solchen Umgang »mit Opfern des Naziregimes« (166). Er selbst zieht zur Interpretation von Kleppers Liedern immer wieder dessen »Schreib- und Lebensart überhaupt« heran (150). Sehr erhellend ist die differenzierte Darstellung von Kleppers Verhältnis zur (Bekennenden) Kirche.
Auch Bonhoeffers Gedichte stellt H. in den Zusammenhang seiner Lebensumstände. Dabei erweist sich »Von guten Mächten« als ein »›privates‹ Gedicht« (182). H. revidiert jedoch seine Meinung, es sei kein Kirchenlied, als er die vielfältigen Beziehungen des Gedichts zu dem von Bonhoeffer geliebten Lied Gottfried Arnolds, »So führst du doch recht selig, Herr, die Deinen« erkennt (196 ff.). Zuvor deutet H. zwei Strophen aus einem Lied Paul Gerhardts als »Verwandlung des Todesbildes«, die Bonhoeffer in die Seelsorge an seinen Mitgefangenen einbringt (188 ff.).
Hans von Lehndorffs »Komm in unsre stolze Welt« wird in einer die Textsequenzen einfühlsam nachsprechenden Weise dem Hörer (Sänger) in einer Predigt nahegebracht.
»Ökumenische Anregungen« nimmt H. im vierten Kapitel auf. Mit den Liedern, die er hier bespricht, will er »auf fremde Reichtümer aufmerksam machen« (210). Die »Frauenbeiträge aus der Ökumene zum geistlichen Kinderlied« etwa oder Kirchenlieder, die das Leben in der Stadt thematisieren, stellen uns vor die »Zumutung einer überraschend neuen Weise, Gott und Welt singend beieinander zu halten« (241). In den Beiträgen dieses Kapitels spricht H. aus und von der eigenen Erfahrung mit dem Übersetzen und Nachdichten von fremden Gedichten – sehr bewegend die von Trauer und Sinnverlust geprägten von Svein Ellingsen.
Das letzte Kapitel, »Hymnologie als Kirchenliedforschung und kritische Gesangbuchkunde«, benennt und diskutiert die theoretischen Voraussetzungen und Grundlagen, auf denen die zuvor abgedruckten Arbeiten aufbauen. Eine solche hermeneutische Besinnung ist angesichts geschichtlicher Wandlungen in allen an der Kirchenliedforschung beteiligten Wissenschaften, zumal der Theologie, unerlässlich. Die wesenhafte Interdisziplinarität nötigt die Hymnologie dazu, sich ihres Charakters als theologische Disziplin immer neu zu vergewissern.
Das Nachdenken über die Zukunft der Kirchenliedforschung steht am Ende dieses umfang- und aspektreichen Bandes, und davor steht die Erörterung der Frage nach der Zukunft des Gesangbuchs. Nach Theorie und Praxis ist so das Kirchenlied bedacht. Solange Bücher wie dieses von H. aus Liebe zum Kirchenlied ge­schrieben und gelesen werden, braucht einem um seine Zukunft nicht bange zu sein.