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Ausgabe:

Oktober/2014

Spalte:

1239–1240

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Alt, Jörg [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Fragen der Zeit: Entweltlichung oder Einmischung – wie viel Kirche braucht Gesellschaft?

Verlag:

Würzburg: Echter Verlag 2013. 224 S. Kart. EUR 16,80. ISBN 978-3-429-03579-2.

Rezensent:

Martin Wendte

Zumindest in Deutschland hat kaum eine Äußerung von Papst Benedikt XIV. ein solches Maß an medialer Aufmerksamkeit erfahren, aber auch so viele Rückfragen ausgelöst wie die während seiner »Freiburger Rede« am 25. September 2011 propagierte »Entweltlichung« der Kirche, welche nötig sei, um die Kirche aus der Verweltlichung zu lösen. Jörg Alt, Jesuitenpater, Buchautor und engagierter Kämpfer für die Rechte von Migranten, Illegalen und Armen in deutschen und afrikanischen Kontexten, sah sich durch diesen Begriff vor die Frage gestellt, ob der Papst den Rückzug aus den von ihm und vielen Jesuiten praktizierten politischen und sozialdiakonischen Aktivitäten gefordert hätte – oder ob dem Papst mit diesem Begriff ein bestimmtes sozialpolitisches Programm vor Augen stünde. Da die Freiburger Rede selbst keinen Aufschluss auf diese Rückfragen bot, eine Vielzahl anderer Schriften Benedikts den Papst aber generell als Befürworter sozialpolitischer Aktivitäten der Kirche ausweist, sieht es Alt als Aufgabe der jeweiligen Kirchen vor Ort an, ein ge­naueres Verständnis der angemahnten Entweltlichung zu entwi-ckeln. Als ersten Schritt dazu initiierte er ein Diskussionsforum auf dem 98. Katholikentag 2012 in Mannheim, ehe aus diesen und aus weiteren Beiträgen das vorliegende Buch erwuchs.
Das Buch umfasst die Beiträge von 28 Menschen, die von Alt angefragt wurden, um zu einer Reihe von Fragen Auskunft zu geben, u. a., aus welchem persönlichen Hintergrund sie sprechen, ob sie der Meinung sind, dass die Kirche als Ganze sich auf ihre pastoral-sakramentale Arbeit konzentrieren und den sozialdiakonischen Auftrag einigen Orden und Diakonien überlassen sollte, und für welche Themen und mit welchen Mitteln die Kirchen in Politik und Gesellschaft agieren sollten. Die angefragten Autoren sind Freunde und nähere oder weitere Bekannte Alts, entstammen aber ganz unterschiedlichen Hintergründen und gegenwärtigen Arbeitsbereichen: Sie umfassen einen Erzbischof und berühmte Politiker ebenso wie Rentner und illegal in Deutschland lebende Menschen. Gerade diese Vielfalt macht das Buch zu einer interessanten Lektüre. Um diese Vielfalt zu ordnen, sind die Beiträge der Autoren unter vier Rubriken zusammengefasst: In einer ersten Rubrik wird »Der Blick von ›Berufschristen‹« präsentiert, wobei neben dem Erzbischof von Bamberg, Ludwig Schick, und dem Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Bayern, Heinrich Bedford-Strohm, etwa auch der Bundesseelsorger der Katholischen Landjugendbewegung Deutschlands, Daniel Steiger, zu Wort kommt. In der Rubrik »Der Blick von Politikerinnen und Politikern« liest man bekannte Namen wie Wolfgang Thierse ebenso wie weniger bekannte wie den des PIRATEN-Abgeordneten im Saarländischen Landtag Michael Hilberer. Die Rubrik »Der Blick gläubiger und nichtgläubiger ›Menschen guten Willens‹« versammelt Beiträge bekannter Publizisten wie Matthias Matussek, aber auch von Migrationssoziologen, attac- oder Ge­werkschaftsmitgliedern. Zuletzt kommen in der Rubrik »Der Blick von außen« sowohl der indische Jesuitenpater und Theologe Manu Alphonse zu Wort wie ein in Deutschland illegal lebender Russe mit dem Decknamen Kolja Koljanow.
In seinem Nachwort (211–220) betont Alt, dass er selbst solche Menschen anfragte, von denen er vermutete, dass sie das sozialdiakonische Engagement der Kirchen befürworten würden, aber auch solche, die dieses ablehnen würden. Letztlich aber vertreten alle Autoren die Meinung, dass Entweltlichung wichtig sei, wenn damit der Kampf gegen die Verabsolutierung der Welt und ihrer Machtstrukturen gemeint ist und ein Leben aus der Kraft des Evangeliums und der Schönheit der Liturgie. Damit dürfe aber keineswegs der Rückzug ins Private oder nur Spirituelle einhergehen, sondern dies müsse stets verbunden sein mit »weltlichem« Engagement. Bei aller Verschiedenheit solle dieses Engagement laut allen 28 Autoren sowohl Beiträge zu aktuellen tagespolitischen Diskussionen wie Beiträge zu grundlegenden Fragen der Werteorientierung und Beiträge zur Friedensarbeit und Armutsbekämpfung umfassen.
Eindrücklich und lesenswert ist das Buch, da es diese allgemeinen Überlegungen in der Form persönlich geprägter, anschaulicher Be­richte von eigenen Lebensläufen, Arbeitskontexten und Ideen darlegt. Der wahre Schatz der Kirche besteht in der Vielfalt von phantasiereichen, engagierten Menschen, die an ihrem Ort in Kirche und Welt für sie zentrale Fragen bearbeiten und so die Kirche in facettenreicher Weise als Größe sichtbar werden lassen, die in der Welt gegen die Welt steht. Dabei kommen Fragen der Einkommensverteilung, der Besteuerung und der Kirchensteuer ebenso zu Wort wie der Umgang mit Illegalen in Deutschland, die Missbrauchsskandale (als perverser Form der Entweltlichung), die prophetische Kraft jugendlichen Engagements in Berlin, und vieles mehr.
Dieser Vorteil des Buches könnte ebenso als sein Nachteil gewertet werden: Denn die Beiträge sind nicht wissenschaftlicher Natur, sondern eher feuilletonistisch, so dass sie auch aufgrund ihrer Kürze keine weitergehenden theoretischen Klärungen zu den genannten Stichworten oder zum Großthema der Entweltlichung leisten. Es ist dem Buch aber wohl angemessener, wenn es als Aufruf verstanden wird, die den 28 Autoren vorgelegten Fragen für die eigene Arbeit – die praktische wie die theoretische – zu beantworten, um so der recht verstandenen Entweltlichung der Kirche am konkreten Ort vorzuarbeiten.