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Ausgabe:

Oktober/2014

Spalte:

1216–1218

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Seele, Peter, u. Georg Pfleiderer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kapitalismus – eine Religion in der Krise I. Grundprobleme von Risiko, Vertrauen, Schuld.

Verlag:

Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft; Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2013. 386 S. = Religion – Wirtschaft – Politik, 8. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-8487-0016-5 (Nomos); 978-3-290-22023-5 (TVZ).

Rezensent:

Andreas Arndt

Im Zuge der globalen Finanzkrise hat Walter Benjamins schwieriges und vieldeutiges Fragment »Kapitalismus als Religion« (1921) eine überraschende Rezeption erfahren; eine umfangreiche, teils kommentierende, teils aktualisierende Literatur ist entstanden, die zumeist in kritischer Absicht Analogien zwischen Religion(en) und Kapitalismus aufzeigt. Benjamins These, der Kapitalismus selbst sei eine Kultreligion ohne Transzendenz und Erlösung, die als Parasit des Christentums groß geworden sei, wird dabei meist umgangen. Die Herausgeber des hier angezeigten Buches haben im Titel schon deutlich gemacht, dass sie Benjamins These grundsätzlich teilen: Der Kapitalismus ist eine Religion, aber eine Religion in der Krise. Der Ausdruck »Krise« ist mehrdeutig. Er meint die Krise des Kapitalismus, aber er meint ebenso, dass das Vertrauen in die kapitalistische Religion schwindet und vielfach schon aufgezehrt ist. Und schließlich meint er auch, dass für Ökonomie wie für Religion die Tiefenschicht der Unsicherheit gleichermaßen konstitutiv ist, die durch die Leitbegriffe Risiko, Vertrauen und Schuld beschrieben wird. Hierin liegt auch der Charakter des Kapitalismus als Religion begründet.
Die Beiträge des Bandes sind aus einem Forschungskolleg des interuniversitären Zentrums für Religion, Wirtschaft und Politik/Collegium Helveticum-Basel hervorgegangen; ein zweiter Band (»Risiko – Vertrauen – Schuld II«), der die Abschlusskonferenz dokumentieren wird, ist angekündigt (vgl. 6). Bei dem Kolleg ging es nicht nur um eine Diagnose der gegenwärtigen Situation, sondern auch um mögliche Alternativen; einige Vorschläge sind in dem zum Schluss abgedruckten »Basler Manifest zur ökonomischen Aufklärung« (369–374) zusammengefasst.
Birger P. Pridatt Benign order und heaven on earth – Kapitalismus als Religion?«; 25–135) handelt, wie der Untertitel seines Beitrags ankündigt, »Über theologische Ressourcen in der Entwicklung der modernen Ökonomie« (25). Im Anschluss vor allem an Giorgio Agamben wird das Verhältnis von göttlicher Ökonomie und Marktwirtschaft beleuchtet, wobei John Locke, die Physiokraten und Adam Smith als »Säkularisierungsinstanzen« (43) auf dem Weg zur Theorie der Selbstregulation der Märkte ausführlich erörtert werden. Theologisches Residuum nach der Transformation der oeconomia divina in eine oeconomia humana ist Smith’s invisible hand, die Priddat im Kontext der Smith’schen Theory of Moral Sentiment als »sich selbst organisierende Erwartungsspiegelung aller untereinander« (72) interpretiert. Während der Frühkapitalismus noch Erlösung durch Teilhabe am Reichtum der Gesellschaften versprach, habe sich der heutige Kapitalismus davon verabschiedet. Er spekuliere (auf den Finanzmärkten) auf die Zukunft, um in der Gegenwart maximale Gewinne einzufahren; das »schnelle Geld« ersetze den Glauben an die Zukunft (113), womit – gegen Agamben – womöglich das Ende des Kapitalismus als Religion eingeleitet sei (vgl. 112). Er sei nur noch Schicksalskult mit Tyche als Gottheit (115).
Jochen Hörischs »ökonomisch theologischer Traktat« (»Man muss dran glauben«, 137–222) geht von der bereits vielfach erörterten strukturellen Analogie von Geld und Gott aus, um die strukturellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Systeme ›Religion‹ und ›Ökonomie‹ in einer instruktiven Zusammenfassung des Forschungs- und Diskussionsstandes zu erkunden. Wichtig ist der Hinweis auf Jacques Le Goffs wenig bekannte, gegen Max Weber gerichtete These, nicht der Protestantismus, sondern die Erfindung des Fegefeuers habe den Kapitalismus (Le Goff bezieht sich auf Norditalien) beflügelt: »Das Purgatorium ist eine Bank, die zwischen Soll und Haben, Hölle und Himmel, Verdammnis und Erlösung vermittelt und die Heils-Risiken managt« (157). Die Stärke des Kapitalismus sieht Hörisch gerade in seinem Irrationalismus, den Neoklassik bzw. Planwirtschaft leugnen bzw. einhegen wollten (182). Dagegen gilt für Hörisch: »kapitalistische Marktwirtschaft ist alltagsreligiös praktizierter unkritischer Irrationalismus – und eben deshalb so produktiv.« (183) Dies gilt insbesondere für das Geld, das nur durch den Glauben daran seine Funktion erfüllen könne (200). Obwohl der Literaturwissenschaftler Hörisch den Kapitalismus für »ein schlechthin überzeugendes und bewährtes Konzept« (205) hält, möchte er die aufgeklärte Religion durch eine aufgeklärte Ökonomie ergänzen, die sich u. a. gegen die neoliberale Verteufelung des Staates, die wachsende Einkommensschere und gegen die Haftungsfreistellung der Banken und Konzerne richtet. Das sind gewiss vernünftige Überlegungen, welche auf breitere Zu­stimmung hoffen dürfen.
Dennoch: Ob der Kapitalismus so alternativlos ist, wie Hörisch glaubt, müsste wenigstens noch diskutiert werden dürfen. Die aufgeklärte Religion bedurfte des Anstoßes durch die aufklärerische Religionskritik; auch die kapitalistische Religion könnte das Ge­gengift eines Atheismus, der nicht mehr an Geld und Kapital glaubt, gut vertragen. David Graeber z. B. und, noch immer, Karl Marx hätten hier einiges zu sagen.
Eine »neue Sicht auf den wirtschaftlich tätigen Menschen« verspricht Christoph A. Weber-Berg (»Die Entfaltung des homo oeconomicus«; 223–279). Hier geht es um ökonomische Aufklärung aus einer aufgeklärt theologischen Sicht. Ausgangspunkt ist die neuerliche Beobachtung (die z. B. auch Hegel um 1800 schon vorgetragen hatte), dass die Ökonomie die Tendenz hat, sich schrankenlos auszudehnen und andere Sphären zu vereinnahmen; dem wird – im Rekurs auf philosophische (Plessner) und theologische Anthropologie – das Leitbild einer am Menschen orientierten Wirtschaft entgegengesetzt, in dem der homo oeconomicus »seine wirtschaftliche Selbst- und Vorsorge« dadurch vollzieht, »dass er sich für das Andere seiner selbst, für sein Gegenüber öffnet.« (273) Dies habe »be­kenntnishaften Charakter« (274); nur kann man bezweifeln, dass die wirtschaftlichen Prozesse überhaupt noch in der Verfügung von Subjekten stehen, die auf ein solches Bekenntnis zu verpflichten wären (bereits Marx sprach ja von den Akteuren des Kapitals als »Charaktermasken«).
Den weitgehendsten Reformvorschlag bringt Paul H. Dembinski ins Spiel (»Finanzen und Fristen: Krise der Kongruenz zwischen Realität und Virtualität der Zeit«; 281–323). Er möchte die von David Graeber bereits erwogene alttestamentarische Idee eines Jubeljahres reanimieren und schlägt dafür einen Zyklus von 50 Jahren vor.
Marc Chesney (»Die Umwandlung des Kapitalismus und seine Finanzdurchdringung«; 325–368) vertritt die These, die Okkupation der Realwirtschaft und damit des (an sich nicht fehlerhaften) Kapitalismus durch die Finanzwirtschaft sei der eigentliche Sündenfall, nämlich ein Verrat der Ökonomie an den Kasinokapitalismus. Dem will Chesney, der seine Diagnose mit umfassendem Datenmaterial untermauert, nicht mit Moral begegnen (vgl. 362), sondern durch ökonomische Einsicht, welche zu einer Regulierung der Finanzmärkte führen müsse. Seine Vorschläge bestimmen dann auch weitgehend das »Basler Manifest«.
Allen Beiträgen gemeinsam ist die Auffassung, dass die öko-nomischen Theorien unter einem Reflexionsdefizit leiden. Da kritische Reflexion sich auf diesem Feld gegen die scheinbare Al­ternativlosigkeit des Bestehenden behaupten muss, hätte mehr Radikalität vielleicht gut getan, um Alternativen überhaupt denkbar zu machen. Dennoch: Aus der Flut der Veröffentlichungen zum Thema Kapitalismus und Religion ragt dieses Buch durch Materialfülle, Tiefe der historischen Reflexion und Formulierung praktischer Reformvorschläge weit heraus, so dass es unbedingt lesenswert ist.