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Ausgabe:

Oktober/2014

Spalte:

1201–1203

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Köhlmoos, Melanie, u. Markus Wriedt[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Wahrheit und Positionalität.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2012. 213 S. = Kleine Schriften des Fachbereichs Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main, 3. Kart. EUR 18,80. ISBN 978-3-374-03038-5.

Rezensent:

Matthias Petzoldt

Das im Titel angezeigte »Leitthema ist erheblich breiter als der Fokus der nachfolgenden Überlegungen«, kann man an einer Stelle des Bandes lesen (125). In der Tat! Wird hier doch die Wahrheitsfrage allein unter dem Problem thematisiert, wie der Wahrheits-anspruch in den Traditionen christlicher Religion angesichts der Pluralität und Differenz von Positionen und erst recht im Hinblick auf die Verschiedenheit von Religionen begründet erhoben und im Dialog mit Toleranz vertreten werden kann. Völlig ausgeblendet ist dabei die in der wahrheitstheoretischen Diskussion vollzogene Abwendung vom Gebrauch des Substantivs »Wahrheit« und die analytische Konzentration auf die Ausleuchtung der Geltung der prädikativen Wendung »ist wahr«, wie sie z. B. John L. Austin 1950 mit den Worten angezeigt hatte: »›Was ist Wahrheit?‹ sagte Pilatus spöttisch und wollte nicht bleiben, um die Antwort zu hören. Pilatus war seiner Zeit voraus. Denn ›Wahrheit‹ selbst ist ein abstraktes Substantiv, also ein Kamel von einer logischen Konstruktion, das nicht einmal durch das Öhr eines Grammatikers hindurchgehen kann.« Zwar kann die Theologie mit Recht auf den biblischen S prachgebrauch, die reiche Vergangenheit theologisch-philosophischer Erörterungen sowie auf die gegenwärtige umgangssprachliche Verwendung des Terminus verweisen. Sie (wie auch andere Geisteswissenschaften) muss sich aber mit jener Entwicklung, die besonders durch die naturwissenschaftliche Denkweise vorangetrieben wurde, auseinandersetzen und ihren Begriffsgebrauch plausibilisieren können. All dies wird im vorliegenden Band nicht zum Thema. Stattdessen kreist die Mehrzahl der Beiträge, die aus der Arbeit eines Forschungsprojekts am Fachbereich Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt hervorgegangen sind, um Fragen der Rezeption der Konzeption von Dialogizität und Polyphonie des russischen Literaturwissenschaftlers und Philosophen Michail M. Bachtin (1895–1975) für die Arbeitsmethodik in den theologischen Fachdisziplinen.
Melanie Köhlmoos diskutiert die Frage, inwieweit in der alttes-tamtlichen Exegese das Intertextualitätsparadigma durch Bachtins Konzeption von Dialogizität zu ersetzen wäre. Dadurch werde eine Heteroglossie in den Texten sichtbar, die nicht nur den Einfluss des Alten Orients auf das Alte Testament erkennen lässt, sondern um­gekehrt auch die Wirkung seiner Diskurse auf die Umwelt. Plura-lität kennzeichne also nicht erst unsere gegenwärtige Situation, sondern bereits die alttestamentlichen Schriften in ihrer vorkanonischen Phase, insofern die in ihnen erkennbaren Positionen von einem dialogischen Umfeld geprägt sind.
Bachtins Konzept der Dialogizität verhilft dem Neutestamentler Stefan Alkier dazu, den christlichen Kanon als positionell qualifizierten Pluralismus zu verstehen, welcher dazu befähigt, diese Polyphonie »als Richtschnur des Glaubens gegenüber anderen, nicht kanonisierten Schriften« aufzunehmen (66) und darüber zu »lernen, nicht nur mit Diversität, sondern auch mit unaufhebbarer Differenz produktiv umzugehen« (67). »Gerade der normative Anspruch des Kanons verwehre einen alle Unterschiede gleichmachenden Pluralismus, denn er hält auch unter den Bedingungen globaler Wirklichkeiten die Wahrheitsfrage wach« (67).
Im Anschluss an Bachtin will Michael Schneider mit der Interpretation des Matthäusevangeliums »das Problem angehen, welche Rolle der Andere für die Selbstdefinition spielt und welche Rolle andere ethnische Gruppen für die Identität ganzer Gemeinschaften spielen« (90).
Markus Wriedt entwickelt eine Skizze, welche die Tragfähigkeit der Dialogizitätskonzeption Bachtins im Zusammenhang mit Anregungen aus dem amerikanischen Pragmatismus für eine erneute historiographische Beschäftigung mit längst bekannten Quellen neuzeitlicher Differenz- und Toleranzdiskurse auszuloten sucht.
Unter Kritik an Dalferths Pluralitätskonzeption in dessen Kombinatorischer Theologie (1991) spielt Heiko Schulz in seinem systematischen Beitrag die These durch, dass die Reflexion auf die Perspektivenabhängigkeit der eigenen Position den Glauben an deren Wahrheitsfähigkeit nicht in Frage stellt, sondern vielmehr Positionalität notwendig bedingt. »Wir können nur dann Position für etwas beziehen, wenn wir es als Perspektive auf Wahrheit ansehen« (133). Freilich argumentiert Schulz mit einer »Externalität der Wahrheit« (148), die implizit die Vorstellung von der einen Wahrheit als einem archimedischen Punkt in Anspruch nimmt, welche notwendig davon unterschiedene Positionen als perspektivenabhängige Überzeugungen von Wahrheit erscheinen lässt. Inwieweit eine solche Sichtweise noch mit Bachtins Konzept von Dialogizität kompatibel ist, wird nicht diskutiert. Jene literaturwissenschaftliche Konzeption spielt in diesem Beitrag keine Rolle.
Ähnlich verzichten Hans-Günter Heimbrocks praktisch-theologische Überlegungen zu einem lebensweltlichen Dialogverständnis auf eine Bachtin-Rezeption. Umso mehr greifen sie auf andere Kulturtheorien zurück, um sich schließlich bei Martin Bubers dialogischem Personalismus Anstöße für den Dialog der Religionen zu holen.
Auch der abschließende Beitrag, in dem Christian Wiese einen Durchgang durch die jüdische Religionsphilosophie des 20. Jh.s unternimmt, läuft darauf hinaus, Bubers Konzeption von Zwiesprache für die Reflexionen zu Pluralität und Dialogizität fruchtbar zu machen.
Insgesamt vermittelt der Band den Eindruck eines Werkstattberichts mitten aus der Arbeit an einem interessanten Forschungsprojekt zum Problem von Positionalität und Dialogizität aus der Perspektivität theologischer Fachdisziplinen und kulturtheoretischer Konzepte. Welcher Stellenwert dabei Bachtins Literaturtheorie zukommt, erscheint noch klärungsbedürftig. Und erst recht muss man dem Projekt den Dialog mit der wahrheitstheoretischen Diskussion empfehlen.