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Ausgabe:

Oktober/2014

Spalte:

1186–1188

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Blanke, Eberhard

Titel/Untertitel:

Systemtheoretische Beobachtungen der Theologie.

Verlag:

Marburg: Tectum 2012. 227 S. Geb. EUR 29,90. ISBN 978-3-8288-3074-5.

Rezensent:

Thomas Wabel

Nach wie vor stellen die Systemtheorie Niklas Luhmanns und ihre gesellschafts- und religionstheoretischen Implikationen eine fruchtbare Herausforderung für die Theologie dar. Insbesondere Luhmanns posthume Religionstheorie, die ein Verständnis von Religion unter Beachtung der Perspektive religiöser Selbstbeschreibung entwickelt, ermöglicht die Analyse religiöser Phänomene, ohne deren Geltungsanspruch bestreiten zu müssen. In die theologische Luhmann-Rezeption schaltet sich Eberhard Blanke ein und entwickelt systemtheoretische Beschreibungen zentraler theologischer Problemfelder, gefolgt von Überlegungen zu Pastoraltheologie, Qualitätsentwicklung und medialer Kommunikation.
Wichtige Stationen der bisherigen Diskussion referiert der Vf. (26 ff.54). Dabei überrascht die mehrfach wiederholte Bemerkung, »die Theologie« sei bislang »über Wortübernahmen und Immunreaktionen […] nicht erkennbar hinausgekommen« (33). Der dieser Formulierung zugrundeliegenden Hoffnung, dass dies nicht so sein möge, hat Luhmann immerhin bereits im Jahr 1976 Ausdruck verliehen. Die nachfolgenden Jahrzehnte haben nicht nur eine differenzierte und komplexe Anwendung systemtheoretischer Grundbegriffe auf theologische Zusammenhänge gebracht, sondern auch Luhmanns Reaktionen hierauf – siehe etwa die detailreiche Auseinandersetzung mit Michael Welker in Luhmanns Religion der Gesellschaft (Frankfurt a. M. 2000, 332 ff.).
Angesichts der pauschalen Kritik, die Begriffe und Unterscheidungen der »alteuropäischen Theologie« seien nicht mehr zeitgemäß (8), ist man neugierig auf die vom Vf. avisierte Neubestimmung der Theologie. Sein Anliegen, von Ontologie oder Bewusstseinstheorie auf einen kommunikationstheoretischen Zugang umzustellen (9 f.156 u. ö.), ist wichtig und verspricht neue Perspektivierungen theologischer Fragestellungen. Doch erweist sich leider bald, dass die anvisierte systemtheoretische Beschreibung der Theologie in einer direkten Übertragung systemtheoretischer Begrifflichkeit auf theologische Sachverhalte bestehen soll. Ein solcher Transfer kann durchaus aufschlussreich sein – doch bedarf es dazu einer jeweils genauen Bestimmung dessen, wie Luhmanns formale Unterscheidungen sich auf die beobachteten theologischen Phänomene und ihre Geltungsansprüche beziehen lassen. Wird das eine mit dem anderen gleichsam kurzgeschlossen, so führt dies zu Verkürzungen auf beiden Seiten. Anhand der Ausführungen zur Christologie (149-157) sei dies exemplarisch verdeutlicht. Der Vf. wendet die – für Luhmann in der Tat zentrale – Figur des re-entry (der Wiedereintritt einer Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene) auf die Gott/Mensch-Unterscheidung der altkirchlichen Christologie an. Schon in der Erläuterung der Figur tritt aber ein folgenreiches Missverständnis auf. Denn der Wiedereintritt kann eben nicht »auf der einen oder der anderen Seite der Unterscheidung« erfolgen (150) – vielmehr können alle Operationen nur auf der bezeichneten (Innen-)Seite vollzogen werden; die zugrundeliegende Unterscheidung ist also asymmetrisch verfasst. Obwohl sich der Vf. dessen bewusst ist (152), löst er die Asymmetrie des re-entry auf, indem er diesen durch einen »re-exit« ergänzt (155–157) – eine offenbar selbstgewählte Figur, die Luhmanns Theorie fremd ist und, soweit ich sehe, in der Diskussion bislang nur in der Kunstphilosophie Harry Lehmanns aufgetreten ist (Die flüchtige Wahrheit der Kunst. Ästhetik nach Luhmann, München 2006). Das führt theologisch wie systemtheoretisch zu Verzerrungen. Denn statt christologische Sprachformen (mit Luhmann) religionstheoretisch als Symbolisierungen des Wiedereintritts der mitgeführten unbeobachtbaren Seite zu verstehen, sucht der Vf. (gegen Luhmann) die Unterscheidung auf der unbezeichneten Seite Gott zu verorten. Ob mit der so postulierten Unterscheidung Gott/Gott (156) auf den trinitätstheologischen Zusammenhang einer Selbstunterscheidung Gottes hingewiesen sein soll, bleibt offen. Jedenfalls aber unterlaufen dem Vf. hier die gleichen ontologisierenden Unterstellungen, für die er die altkirchliche Christologie kritisiert. Denn die formal zu fassende »Einheit der Unterscheidung« wird unversehens gleichgesetzt mit der »Frage nach dem Ganzen der Teile«, sc. der beiden Naturen Christi (153).
Auch in dem – an sich sehr begrüßenswerten – Versuch einer Bestimmung von Qualitätskriterien theologischer Arbeit, dem die Schlusskapitel des Buches gewidmet sind, kommt es zu Verkürzungen gegenüber dem Anspruch der Luhmannschen Theorie. Exemplarisch empfiehlt der Vf. zur Beurteilung von Predigten etwa die Leitdifferenzen »trostvoll/trostlos« oder »rhetorisch/nicht-rhetorisch«, ergänzt durch rekursive Anwendung weiterer Unterscheidungen (210). Zwar vermögen binäre Unterscheidungen die Differenziertheit homiletischer und ästhetischer Rezeptionsprozesse durchaus unter jeweils einem Gesichtspunkt zu strukturieren (212). Doch die Beobachtung der Ambivalenzen des Lebens wird unmöglich, wenn die Pointe von Luhmanns Konzept der Unterscheidung unbeachtet bleibt: Die jeweils unbezeichnete Seite der Unterscheidung ist mitgegeben und die jeweils aktualisierte Form verweist so stets auf ihre nicht aktualisierte Seite. Die Systemtheorie wird dadurch nicht nur anschlussfähig für Semiotik und Phänomenologie (worauf Luhmann selbst hinweist), sondern öffnet sich auch für hermeneutische Fragestellungen. Als homiletischer Hinweis ergäbe sich daraus: Beachte, welche unabschließbaren Bezugnahmen der von dir gewählte Zugang für die Hörerinnen und Hörer eröffnet – und zwar auch dann, wenn diese Bezüge nicht ausdrücklich gemacht werden! So wichtig der Verweis des Vf.s auf die Figur binärer Codierung ist – die starre Sistierung der beiden Seiten unterschreitet die Möglichkeiten, die Luhmanns Theorieansatz bietet. Zudem droht an dieser Stelle eine begriffliche Unschärfe hinsichtlich des Formbegriffs. Denn wenn es heißt: »Der Mut zur Unterscheidung ist der Mut zur Formfindung und damit der Mut zur Qualität, denn Qualität gibt es ausschließlich in bestimmten Formen« (211), so scheint hier der strikt systemtheoretische Begriff der Form als Einheit einer Unterscheidung unter der Hand in den Formbegriff rhetorischer oder ästhetischer Gestaltung überzugehen.
Dem Vf. nicht anzulasten, gleichwohl ärgerlich ist die äußere Gestaltung des Buches mit unlesbar kleinen Fußnotenziffern, der Verteilung der Literaturverzeichnisse auf sechs verschiedene Stellen innerhalb des Buches und dem in der Kopfzeile permanent mitlaufenden Buchtitel. Neben einem Index hätte man sich, da es sich offenbar um eine Aufsatzsammlung handelt (7), Nachweise der Erstveröffentlichungen gewünscht.
Mit seinem Anliegen, das noch unabgegoltene Potential des Luhmannschen Denkens für die Theologie zu erschließen, widmet sich der Vf. einem wichtigen Desiderat gegenwärtiger theologischer Arbeit. Seine Analysen zu Luhmann und deren Anwendung auf theologische Fragestellungen liefern aber ein stellenweise verzerrtes Bild der Problemzusammenhänge.