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Ausgabe:

Oktober/2014

Spalte:

1180–1182

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Römer, Jürgen [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Profil und Abgrenzung. Luthers (vergessenes?) Vermächtnis. Beiträge des historisch-theologischen Symposions (21.–23.06.2012) anlässlich der Festwoche 475 Jahre Schmalkaldische Artikel.

Verlag:

Kassel: Evangelischer Medienverband der Ev. Kirche v. Kurhessen-Waldeck 2013. 170 S. Geb. EUR 21,00. ISBN 978-3-89477-883-5.

Rezensent:

Gerhard Müller

Es ist der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck zu danken, dass aus Anlass des 475-jährigen Jubiläums dieses Textes Luthers ein Symposion in Schmalkalden durchgeführt wurde und die dort vorgetragenen Beiträge zum Druck gebracht wurden. War diese Arbeit Luthers sein theologisches Testament oder ein Text, den die evangelischen Fürsten beim angesagten Konzil in Mantua beachten sollten? Ist dieses »Vermächtnis« bald vergessen worden, weil das Konzil verschoben wurde, oder wurde es beachtet? In dem vorgelegten Band gibt es unterschiedliche Antworten. Aber es gibt auch große Übereinstimmungen. Denn alle Autoren befleißigen sich der historischen Kritik und gehen von den Quellen aus. Johann Friedrich von Sachsen hatte Luther gebeten festzuhalten, worauf man bei einer Beteiligung am päpstlichen Konzil beharren müsse und wo man nachgeben könne. Gleichzeitig riet er dem Reformator, angesichts seiner schweren Erkrankungen mitzuteilen, was er für seine feste Glaubensüberzeugung halte. Luthers Text ist dadurch persönlich formuliert worden. Wir wissen aber, dass mehrere evangelische Theologen Luther in Schmalkalden besucht und ihn um Veränderungen oder Hinzufügungen gebeten haben. Dem ist er nachgekommen. Es ist also sicher sein persönliches Bekenntnis, zugleich aber auch ein aufgrund von Beratungen veränderter Text.
Einem Philologen gingen diese Veränderungen nicht weit genug, Philipp Melanchthon. Er war über Luthers Polemik gegen das Papsttum so entsetzt, dass er als Einziger nur eingeschränkt seine Zustimmung zu Luthers Text gab. Aber damit nicht genug. Er steckte sich hinter den hessischen Landgrafen, nur nicht diese Artikel vom Schmalkaldischen Bundestag anerkennen zu lassen. Es gab aber Stimmen, die eine Ergänzung zum Augsburger Bekenntnis von 1530 für erforderlich hielten, nämlich Ausführungen zum Papsttum. Flugs schrieb Melanchthon seinen »Traktat über die Macht und den Primat des Papstes«, der vom Bundestag angenommen wurde. Luthers Vermächtnis blieb dagegen eine Theologenarbeit. Melanchthon hatte über Luther gesiegt. All das wird in neun Beiträgen sachlich erörtert.
Burkhard zur Nieden behandelt »Schmalkaldische Artikel und Schmalkaldischer Bund aus historischer Sicht«. Er tut dies äußerst präzise, erhellt die Zusammenhänge und betont dabei auch die Vieldeutigkeiten, die nicht immer nur eine einzige Erklärung zulassen. Volker Ortmann betrachtet Luthers Artikel »im Kontext der Religionsgespräche«, der Verständigungsversuche zwischen Protestanten und Katholiken, die beim Augsburger Reichstag 1530 begonnen hatten und die 1540 fortgeführt wurden. Den zentralen Streitpunkt, das Papsttum, hat Volker Leppin dargestellt. Er ka­schiert die Wucht der Aussagen Luthers nicht, ordnet sie zu­gleich aber in seine Apokalyptik ein: Nachdem Luther gemeint hatte, erkannt zu haben, dass der Papst der Antichrist sei, wird seine apokalyptische Endzeiterwartung wach und virulent. Dietrich Korsch rät, »das Bekenntnis vom Akt des Bekennens aus zu bedenken«. Trotz ihrer scharfen Polemik seien Luthers Artikel für die ökumenische Diskussion wichtig als »das Dokument einer von Gott zu erwartenden Reformation der Kirche«. Friederike Nüssel stellt die Bedeutung von Luthers Arbeit für die »Formierung der Wittenberger Reformation« dar. Sie eruiert, dass in den theologischen Streitigkeiten nach Luthers Tod dessen Artikel von den Gnesiolutheranern beachtet wurden. Dadurch kamen sie in Zusammenstellungen von Bekenntnisschriften und auch in das Konkordienbuch.
Eine »ökumenisch-katholische Lektüre« der Artikel nimmt Josef Freitag vor. Er fragt, ob Antipapalismus und Antiromanismus immer noch zum reformatorischen Denken gehören, und erklärt: »Weder Vereinnahmung noch Verschmelzung können Ziel der Ökumene sein.« Luther hatte Gemeinsames mit der Papstkirche benannt. Die Rückfrage des Autors ist hoch berechtigt, welche Bedeutung wir daraus ableiten. Dass er Luthers Deutung der Messe und des Papstamtes hinterfragt, ist berechtigt. Er teilt Luthers Einschätzung nicht, dass Evangelische und Katholiken auf ewiglich geschieden sein müssen. Der Rektor der Universität Jena, Klaus Dicke, stellt sich als Politologe vor, der aber auch Katholische Theologie studiert hat und mit einer evangelischen Christin verheiratet ist. In seinem Beitrag »Die Schmalkaldischen Artikel heute in ökumenischer Perspektive« verweist er darauf, dass Luther seine Artikel 1538 zum Druck gab – Öffentlichkeit war nicht nur damals wichtig. Auch wertet er Luthers Ablehnung der Vermischung von Natur, Philosophie und Theologie positiv. Dasselbe gelte für seine Unterscheidung von »Gottes Wort und des Menschen Werk«. Schließlich sichere »die Entsakralisierung menschlicher Satzungen dem Glauben das Fundament: die nur durch das Gewissen gebundene Freiheit des Glaubenden«. Luthers Deutung des Gewissens mache ihn zu einem »unserer ältesten Zeitgenossen« (sic!).
Die Beiträge werden abgeschlossen mit Ausführungen zur sys­tematischen Relevanz von Luthers Vermächtnis und mit Äußerungen zu ihrer Bedeutung für die lutherische Kirche in Tansania – ein Hinweis auf ihre geographisch-ökumenische Bedeutung. Schon Martin Hein hatte in seinem Grußwort auf »das verborgene ökumenische Potenzial« dieser Schrift hingewiesen.