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Ausgabe:

Oktober/2014

Spalte:

1150–1152

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Berger, Klaus

Titel/Untertitel:

Kommentar zum Neuen Testament.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2011. 1049 S. Geb. EUR 44,00. ISBN 978-3-579-08129-8.

Rezensent:

Manuel Vogel

Auf S. 658 des Evangelischen Gesangbuches für Bayern und Thüringen findet sich ein Gebet des polnischen Lyrikers, Religionspä-dagogen und katholischen Priesters Jan Twardowski. Eine der Bitten, die der Dichter und Theologe in dieses Gebet legt, lautet, »dass ich nicht in der Bibel herumspaziere wie ein Pfau«. Die Chancen dieser Bitte auf Erfüllung dürften nirgends schlechter stehen als auf dem Gebiet der Bibelwissenschaften, wo es doch notwendigerweise stets darum geht, viel zu wissen und im gelehrten Streit Recht zu behalten. Wie ist es dennoch möglich, sich anders denn im Pfauengang durch das Neue Testament zu bewegen? Klaus Berger deutet dies an in einem autobiographischen Text über die Zeit seiner theologischen Ausbildung im Priesterseminar:
»Die Vorträge waren so ärgerlich schlecht, dass ich wegblieb und mir über einen Zeitraum von zweieinhalb Tagen nur ein halbes Kapitel des Neuen Testaments vornahm, Gal 3. Über jeden Satz dachte ich stundenlang nach, bis das scheinbar Selbstverständliche und glatt Runtergehende rau wurde, rissig wurde, aufbrach – bis tausend Fragen entstanden. Ich versuchte, die schlichte Logik und die innere Dramatik des Textes zu begreifen und nachzuzeichnen. Ich stand mit dem Text auf und ging mit ihm schlafen […]. Das war der Schlüssel, und so habe ich es später immer gehalten. Ich habe stets versucht, mich dem Text auszusetzen, mich von ihm lesen zu lassen, seine eigenen Regeln zum Sprechen zu bringen. Ich habe versucht, ihn selbst zu hören.« (Jesus, München 2004, 29)
Der einbändige Gesamtkommentar zum Neuen Testament, der mittlerweile in zweiter Auflage vorliegt, bringt die neutestamentlichen Schriften auf eine Weise zum Sprechen, die sich solchem Hören verdankt. Für die Auslegung wird, auch das ist Programm, Alltagssprache verwendet (vgl. dazu K. Berger, Exegese und Philosophie, Stuttgart 1984, 189 f.), nicht weil sie weniger präzise wäre als der Begriff, sondern weil Wortfeld und Metapher der Begriffssprache an Elastizität und Bilderreichtum weit überlegen sind und damit dem Auslegungsgegenstand besser genügen. An die Stelle von Literar- und Quellenkritik treten Traditions-, Religions- und Formgeschichte. Über vermeintliche oder (vielleicht werden wir das irgendwann wissen!) tatsächliche literarische Brüche hinweg werden die Texte als Teil eines breiten biblisch-jüdischen und paganen Traditionsstroms gelesen, der lange vor der neutestamentlichen Zeit entspringt und sich bei entsprechender Quellenkenntnis bis weit über die Spätantike hinaus verfolgen lässt. Für Nichtfachleute stellt dies eine Bildungszumutung eigener Art dar, wenn sie zwar nicht mit Kriterien der historischen Jesusforschung, wohl aber mit spätantiken oder frühmittelalterlichen syrischen oder arabischen Apokalypsen konfrontiert werden.
An Differenziertheit und Trennschärfe kann es die hier praktizierte Traditionsgeschichte mit jeder noch so mikroskopischen Literarkritik aufnehmen, an Erkenntnisleistung ist sie ihr weit überlegen. In den kurzen Einleitungen zu jeder neutestament-lichen Schrift stößt man allerorten auf Szenarien der Frühdatierung, die zumal Texte aus den Randlagen des neutestamentlichen Kanons anschaulich in die Mitte einer überaus lebendigen und intensiven frühchristlichen Kommunikation hineinholen. So ist etwa der Hebräerbrief Mitte der 50er Jahre entstanden, noch vor Aufhebung des Claudius-Edikts 56 n. Chr., geschrieben aus Alexandrien von aus Rom geflohenen Judenchristen an römische Heidenchristen (832). Er entwirft anhand von Themen, die Heidenchristen traditionell am Judentum anziehend fanden (»Schöpfung, Engel, Sabbat, Mose, Gott und die Leiden der Menschen«), ein »Judentum der Unbeschnittenen«: Der Hebräerbrief »beschreibt einen Weg, der es geborenen Heiden ermöglicht, sich in einem vollendeten Judentum beheimatet zu fühlen« (833). Dass der Hebr auch darüber hinaus im frühchristlichen Gespräch vielfach »vernetzt« ist, zeigen die Querverbindungen zu Paulus, dem Markusevangelium und dem Kolosserbrief (834). Die Stellung der neutestamentlichen Schriften zum Judentum bzw. innerhalb des Judentums wird insofern eindeutig bestimmt, als »alle neutestamentlichen Schriftsteller« Judenchristen waren (478). Ein »Christentum«, das »das Judentum« schon hinter sich hätte und ihm allenfalls als Größe einer abstrakten Schrifttheologie Beachtung schenkte, wird nirgends sichtbar. Das ist deshalb wichtig, weil es für christliche Theologie bis heute irritierend ist, dass das Judentum als ihr konstitutives Anderes im Neuen Testament noch kein Anderes ist. Hier kommt es gerade innerhalb der Neutestamentlichen Wissenschaft bis heute zu erheblichen Verzeichnungen. Demgegenüber lokalisiert B. frühchristliche Theologien auch dort in einem jüdischen Kontext, wo sie auf »gegnerische« Lehren rekurrieren.
Die vorausgesetzten Positionen sind durchweg jüdisch, und die neutestamentlichen Gegenpositionen teilen weithin ihre Denkvoraussetzungen. Der 1. Timotheusbrief hat es nicht mit Gnostikern zu tun (791 f.), sondern mit »eine[r] pharisäische[n], frührabbinische[n] Gegnerschaft« (794) im Spannungsfeld von »Apokalyptik, Reinheitsdenken und Dualismus« (801). 1Tim ist sich mit den Gegnern darin ganz einig, dass Heiligkeit/Reinheit unverzichtbar sind, nur wird Heiligkeit eben nicht durch Speiseregeln und Askese erreicht, sondern durch das Dankgebet über den Speisen (1Tim 4,4 f.), das durch die Nennung des Gottesnamens überdies apotropäisch wirkt (800). Im 1. Johannesbrief geht es nicht um Gnosis, Enthusiasmus oder Doketismus, sondern um das Problem der Christensünde. Das Insistieren des 1Joh, dass »Christus im Fleisch gekommen« ist, ist nicht an Doketisten gerichtet, sondern an Christen, die angesichts eigener postkonversionaler Sünde daran zweifeln, dass Jesus tatsächlich der Messias war. Die Theologie des 1Joh hält dagegen: Christus ist himmlischer Fürsprecher und Anwalt, deshalb ist auch postkonversionale Sünde vergebbar und darf, ja, muss (1Joh 1,9) bekannt werden (947 f.). Erwägungen über die Zu­schreibung der Pastoralbriefe an Paulus sind der Binnendifferenzierung nicht abträglich: So oder so gibt es keine paulinische »Einheitstheologie« (792). Auch unter der Annahme einer paulinischen Verfasserschaft geht es darum, auch noch den feinsten Verästelungen und Differenzierungen nachzugehen und ihren Eigensinn und ihre Eigenlogik bloßzulegen, und allein darauf kommt es an. Auch das Johannesevangelium wird aus seiner Randlage geholt und den Synoptikern in ökumenischer Komplementarität (320) an die Seite gestellt. Von Heidenmission, von der Problematisierung von Gesetz oder Beschneidung und von Kirchenstrukturen gilt theologiegeschichtlich eher ein »noch nicht« (321) als ein »nicht mehr« oder ein »abseits von«. Verbreitete exegetische Abstoßungsreaktionen in der Tradition von Reformation und Moderne sind B. fremd. So geht es in Phil 2,12 bei »Furcht und Zittern« nicht um eine notwendige Brechung der Heilsgewissheit als Tribut an den deus absconditus oder dergleichen. Vielmehr liegt hier einfach Theophaniesprache vor (vgl. K. Berger, Historische Psychologie des Neuen Testaments, Stuttgart 1991, 169–171), und ein Widerspruch zu V. 13 (»denn Gott ist es, der in euch wirkt …«) besteht gerade nicht: »›Furcht und Zittern‹ begleiten in der Sprache der Bibel die Menschen bei einer Theophanie Gottes. Wenn Gott in ihnen Mächtiges wirkt, sollen die Angeredeten dabei stehen und voll angemessener Ehrfurcht dieses Wirken Gottes verfolgen« (726). Und was ist mit »Himmelfahrt«? Es geht um das aus Entrückungsberichten geläufige Motiv des Identitätsnachweises dessen, der erschienen ist (420): Die Jünger »sehen« Jesus in den Himmel auffahren und wissen deshalb genau, mit wem sie es zu tun hatten. (In einem Telefoninterview des Rezensenten mit einem erklärtermaßen agnostischen Journalisten des MDR zu »Christi Himmelfahrt« hat diese Antwort auf dessen präzise Frage, was es denn mit Himmelfahrt auf sich habe, sofort überzeugt, nicht dagegen das, was dem Theologen sonst dazu einfiel: »mythologisches Weltbild«, »Himmelfahrt als Machtkritik« …)
B.s Kommentar erfasst das Neue Testament bei Weitem nicht flächendeckend Vers für Vers – leider, möchte man sagen! Aber der Blick da hinein lohnt sich immer, wenn man es mit neutestamentlichen Texten zu tun bekommt. Zumal der Predigt und der Unterrichtsvorbereitung sei das Buch empfohlen, »dann wird es besser mit ihr werden«.