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Ausgabe:

Oktober/2014

Spalte:

1133–1134

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Ochs, Christoph

Titel/Untertitel:

Matthaeus Adversus Christianos. The Use of the Gospel of Matthew in Jewish Polemics Against the Divinity of Jesus.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2013. XVIII, 410 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 350. Kart. EUR 94,00. ISBN 978-3-16-152615-2.

Rezensent:

Günter Stemberger

Wie früh jüdische Autoren Texte des Neuen Testaments kennenlernten, wie umfangreich und wie genau ihre Kenntnisse waren und wie sie damit umgingen, das ist noch immer viel zu wenig bekannt und bedarf in vielen Bereichen noch gründlicher Forschung. Umso erfreulicher ist der vorliegende Band, die geringfügig überarbeitete Fassung einer 2012 an der Universität Nottingham vorgelegten Dissertation (Betreuer Roland Deines), in der Christoph Ochs die Verwendung des Matthäusevangeliums in der jüdischen Polemik des Mittelalters untersucht. In einer knappen Einleitung begründet O. die Wahl des Themas – die Polemik ge-gen die christliche Auffassung der Inkarnation Gottes in Jesus als zentralstem Punkt der Auseinandersetzung zwischen Juden und Christen – und die Konzentration auf Mt als das Evangelium, das für die christliche Theologie in der Frage der Göttlichkeit Jesu die wesentlichen Texte lieferte (vor allem 1,18–24 mit Jes 7,14), zugleich aber jüdischen Disputanten reiches Material bot, um christliche Auffassungen anzugreifen.
Der Hauptteil des Buches gilt sieben jüdischen Texten vom 8. bis 16. Jh., die sich mit Mt und seiner christlichen Auslegung beschäftigen. Der älteste Text ist der arabische »Bericht über die Disputation des Priesters« (Qissat Mujādalat al-Usquf), wovon es mehrere Redaktionen gibt; die ab 1170 bezeugte hebräische Übersetzung Sefer Nestor ha-Komer belegt eine Zwischenform; in ihr sind viele lateinische Zitate des Neuen Testaments hebräisch transkribiert. Falls der im arabischen Text als Gesprächspartner genannte Nestor, der in der hebräischen Fassung als Autor des gesamten Textes gilt, Nestorius von Konstantinopel (gestorben 451) sein sollte, wären die frühesten Vorformen schon im 6. Jh. anzusetzen; der Text ist sicher über die Jahrhunderte gewachsen. Da der Verfasser nicht nur Mt und andere Texte des Neuen Testaments, sondern auch eine Reihe apokrypher christlicher Texte wie z. B. das Protoevangelium Jacobi kennt, ist die Angabe, der Verfasser sei ein zum Judentum konvertierter Christ, plausibel. Die Schrift sammelt vor allem Texte aus den Evangelien, die die Menschheit Jesu betonen, um gegen Jesu Gottheit zu argumentieren: Jesus ist von Gott unterschieden, bezeichnet sich selbst als »Sohn des Menschen«, ist der Sohn Josefs, er betet zu Gott (Getsemani; Jesu Worte am Kreuz), schläft, trinkt, fastet usw. Der Aufenthalt im Leib seiner Mutter, in einer Krippe, auf einem Esel usw. passt nicht zu Gott. Jesus ist vielmehr ein Bote Gottes, der sich selbst als »gesandt« bezeichnet, ein Prophet. Die Nähe zu judenchristlichen, aber auch arianischen bzw. nestorianischen Argumenten legt nahe, dass heterodoxe christliche Stoffe verwendet wurden. Insgesamt versucht der Text, christliche Lehren aus dem Neuen Testament zu widerlegen.
Der nächste Text, das »Buch der Gotteskriege« (Sefer Milh.amot ha-Shem), wurde um 1170 in Südfrankreich oder Spanien geschrieben; über seinen Autor Jacob ben Ruben ist wenig bekannt. Er diskutierte wohl mehrfach mit einem Priester Glaubensfragen; diese Erfahrungen mag der größere Teil des Buches spiegeln, eine Diskussion zwischen dem »Leugner« und dem »Bejaher der Einheit (Gottes)«. Teile von Mt übersetzte er aus dem Lateinischen (gesammelt in Kapitel 11), um damit systematisch den christlichen Glauben zu kritisieren, und wurde eine wichtige Vorlage für spätere polemische Werke. Viele Texte aus Mt sind schon in Nestor ha-Komer diskutiert, der auch explizit zitiert wird, andere sind neu, wie etwa die Verfluchung des Feigenbaums (Mt 21,18–19), ein später immer wieder aufgegriffenes Motiv.
Aus Frankreich stammt Rabbi Josef ben Nathan (mit Beinamen Official), dessen kurz nach 1260 verfasstes Sefer Yosef ha-Meqanne, das »Buch Josefs des Eiferers«, vor allem wegen des Berichts über die Pariser Talmuddisputation von 1240 bekannt ist. Der Verfasser hatte mehrfach Gelegenheit zu Diskussionen mit christlichen Theologen und Bischöfen; er konnte Latein und kannte viele kirchliche Texte. Sein Buch polemisiert gegen die christliche Auslegung biblischer Texte, zeigt aber auch Widersprüche im Neuen Testament auf und argumentiert gegen die Gottheit Jesu, die Trinität und die bleibende Jungfräulichkeit Marias.
Eine umfassende polemische Anthologie ist das Sefer Nizzah.on Yashan, auch als Nizzahon Vetus bekannt, eine Kompilation aus dem 13. oder frühen 14. Jh., vielleicht aus Elsass-Lothringen. Viele der Stellen aus Mt, die das Werk behandelt, sind schon aus den früheren Schriften bekannt, werden hier aber meist breiter besprochen. Even Boh.an (der »Prüfstein«) ist ein polemisches Werk (Erstfassung wohl um 1384, Überarbeitungen 1385 und 1405) des spanischen Rabbi Shem Tov ben Isaak Ibn Shaprut, der mehrfach mit hochrangigen Kirchenmännern disputierte. Er übersetzt als erster ganz Mt und fügt in die Übersetzung 58 kürzere oder längere Kommentare dazu ein; er betont das Jüdische an Jesus und seiner Lehre und versucht zu zeigen, dass Jesu Gottheit aus Mt nicht belegt werden könne.
Ebenfalls aus Spanien stammt Profiat Duran, um 1391 zwangsgetauft, doch dann wieder zum Judentum zurückgekehrt. Sein Werk Kelimmat ha-Goyim (»die Schande der Heiden«) verwendet ausführlich das Neue Testament, vor allem wieder Mt, um damit die Vorstellung der Inkarnation zu hinterfragen. Nur genannt sei schließlich der Sefer H.izzuq Emunah (»Stärkung des Glaubens«) des Isaak ben Abraham von Troki (1593–4), der bei nichtjüdischen Autoren größte Verbreitung fand und dem O. sein letztes Kapitel widmet.
Das Buch bietet einen umfassenden Überblick über die Verwendung des Neuen Testaments, vor allem des Mt, in der polemischen Literatur des Judentums über Jahrhunderte hinweg. Viele Texte werden wörtlich zitiert, sowohl in (sehr guter) Übersetzung und Original (vielfach nach Handschriften und nicht nur traditionellen Ausgaben), zugleich immer wieder für den besseren Überblick tabellarisch zusammengefasst. Schade ist nur, dass zahllose Druckfehler stehengeblieben sind (amüsant S. 7, dass Josef bis zu Jesu Geburt »scrupulously refrained from having martial relations« mit Maria). Doch das soll den positiven Eindruck nicht schmälern.
O. ist ein wichtiger Beitrag nicht nur zur polemischen Literatur jüdischer Autoren gelungen, sondern besonders zur jüdischen Rezeption der Evangelien, wobei die arabische Fassung von Nestor ha-Komer etwa zeitgleich mit der Spätphase der Talmudredaktion entstanden ist – ein wichtiges Argument in der Frage, wieweit die Rabbinen des Talmud schon christliche Texte kennen konnten. Den Autoren ging es dabei nicht allein darum, christliche Lehren zurückzuweisen; wichtig war ihnen vor allem, vom Christentum angezogenen, später auch zwangsweise zum Christentum bekehrten Glaubensgenossen einen kritischen Umgang mit den ihnen bekannt gewordenen, vielleicht auch attraktiven christlichen Texten zu ermöglichen. Reine Polemik hätte oft nur wenig überzeugt; viel mehr konnte eine weithin wohlwollende Lektüre des Neuen Testaments aus jüdischer Sicht beitragen. Damit haben die hier besprochenen Schriften viele Punkte moderner jüdischer Kommentierung des Neuen Testaments vorweggenommen, aber auch so manche Argumente der christlichen Evangelienkritik seit der Aufklärung. O. hat ein wichtiges Buch vorgelegt, zu dem man ihm gratulieren darf.