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Ausgabe:

September/2014

Spalte:

1047–1049

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Strecker, Christian, u. Joachim Valentin [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Paulus unter den Philosophen.

Verlag:

Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 2013. 278 S. = ReligionsKulturen, 10. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-17-022069-0.

Rezensent:

Lukas Bormann

Der Neutestamentler Ch. Strecker und der Kulturtheologe J. Valentin haben im zu besprechenden Band Vorträge zusammengestellt, die während zweier Akademietagungen 2009 und 2010 gehalten wurden. Die behandelten philosophischen Paulusdeutungen reichen von Kant über Nietzsche, Heidegger, Erik Peterson, Jacob Taubes bis zu den zeitgenössischen Denkern Hermann Schmitz, Daniel Boyarin, Gianni Vattimo, Alain Badiou, Slavoj Žižek und Giorgio Agamben. Einige Beiträge bieten eindringliche, material- und kenntnisreiche Analysen, andere leisten eher Wissensvermittlung an ein interessiertes Akademiepublikum.
Der Eingangsartikel von Karl Lehmann (13–30) befasst sich mit dem »heiligen Paulus« und dem Paulusjahr der katholischen Kirche. Ekkehard W. Stegemann (31–47) gibt eine informierte Übersicht über die Stellung des Paulus im Rahmen der antiken Philosophie. Röm 7 und die stoische Willensfreiheit hätten auch Kant beschäftigt. Micha Brumlik (48–58) konfrontiert die »postmodernen Paulusdeuter«, die ihm alle als »christlich« gelten, mit der Erwartung, dass sich der moralische Universalismus auch ohne antijüdische Akzentuierungen verwirklichen lassen müsse. Daniel Havemann (59–77) analysiert die Paulusdeutung Nietzsches. Nach Havemann habe sich Paulus »von der Philosophie in aller Form distanziert«. Der Apostel habe zudem alle »bisherigen Deutungskategorien« der Moral und Erkenntnis abgelehnt. Das überzeugt nicht, wie die Aufnahme der stoischen Diatribe durch Paulus, sein Schriftverständnis oder auch seine Hochschätzung des Dekalogs zeigen.
Holger Zaborowski (78–102) zeichnet die Bedeutung der Paulusrezeption für die Theologie Heideggers nach. Er setzt bei dessen frühen Freiburger Vorlesungen über die Religion ein und versucht Heideggers Wendung von der intensiven Beschäftigung mit Paulus zu einem »Verschweigen« dieser Einflüsse biographisch nachzuzeichnen. Während J. Brejdak in seiner bei Robert Spämann an­gefertigten Dissertation Heideggers Philosophie wesentlich durch dessen Paulusrezeption beeinflusst sieht und deswegen als »philosophia crucis« bezeichnet, kann Zaborowski eine Abwendung Heideggers von seinem frühen »Paulinismus« zugunsten der Fundamentalontologie nachweisen, für die Paulus bzw. das Christentum zwar ontisch, nicht aber ontologisch relevant sei.
Michael Großheim und Henning Nörenberg (103–119) befassen sich mit der Paulusrezeption von Hermann Schmitz. Dieser knüpfe an den paulinischen Aussagen zum Leib (σῶμα) an, interessiere sich im Gegensatz zu Badiou, Agamben und Žižek nicht für die apokalyptischen Momente der Theologie des Paulus, sondern für dessen Anthropologie und Ethik. Überraschend ist die Interpre-tation, dass Paulus mit ἀγάπη keine universale Orientierung, sondern eine »privilegierende Herrenmoral« und »Erwählungs-aristokratie« bezeichne. Ob damit der zentrale Begriff neutestamentlicher Ethik, der im Text durchweg mit falschen Akzenten gesetzt ist, nicht auch in einem tieferen Sinn falsch akzentuiert ist? Chris­toph Schulte (120–131) vertritt die These, dass die vielen geistvollen, bisweilen kenntnisreichen, oft aber auch widersprüch-lichen Bezugnahmen von Taubes auf Paulus in ihren jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontexten zu interpretieren sind. Das philosophische Werk Taubes’ sei eine lebenslange »Antwort auf die Shoah«. Wer mag da widersprechen? Allerdings wird eine solche Lesart der Bedeutung der Hermeneutik Taubes’ nur teilweise gerecht. Wolfgang Stegemann (132–154) befasst sich mit der Paulusdeutung Boyarins, eines Professors für Talmudische Kultur, dessen Paulusbuch für Stegemann »das Buch eines radikalen Kritikers der jü-dischen Kultur der Gegenwart« ist. In deutlicher Abgrenzung von Boyarin betont Stegemann die affirmativen, nicht die kritischen Momente der Haltung des Paulus zum Judentum.
Martin G. Weiß (155–177) befasst sich mit der Rezeption des paulinischen Zeitverständnisses bei Vattimo. Überausführliche Zitate und der unmotivierte Wechsel von lateinischen und griechischen Bibelzitaten stören den Lesefluss. Manches verwundert, etwa die Behauptung, der Hebräerbrief sei ein paulinischer Brief, oder die Begriffe κένωσις (nie im Neuen Testament verwendet!) und θλῖψις seien mit »Schwäche« angemessen übersetzt (vgl. die Wortgruppe ἀσθεν-). Alexander Heit (178–198) referiert geschickt zu­nächst die Philosophie Badious und dann dessen Paulusinterpretation. Durch diese Vorgehensweise ergeben sich allerdings auch Wiederholungen. Eine kritische Würdigung erfolgt nur hinsichtlich des Vorwurfs, Badiou betreibe eine »Diffamierung der Juden«. Heit wendet dagegen zu Recht ein, Badiou kritisiere »alle Partikularitäten«. Er geht aber nicht weiter auf das auch von Brumlik angedeutete Argument ein, dass die logische Argumentationsfigur, nach der sich ethische Universalität und binnenethische Partikularität ausschließen, in der Geschichte der Menschenfeindlichkeit immer wieder zu Ausgrenzung und Diffamierung bestimmter Gruppen beigetragen hat und beiträgt. Markus Buntfuß (199–206) zeichnet die Paulusdeutung Žižeks überzeugend nach. Diesem gelinge es, an Paulus die »subversive(n) Struktur des Christentums« herauszuarbeiten. Abschließend bringt Buntfuß aus liberaler theologischer Perspektive zahlreiche Einwände vor. Es ist nicht ganz deutlich, ob sich diese gegen Žižeks Analyse oder gegen die »subversive Struktur des Christentums« selbst richten. Bei Letzterem wäre das sprichwörtliche Kind mit dem Bade ausgeschüttet.
Christian Strecker (207–278) schließlich befasst sich mit Agambens Werk. Der umfangreiche Beitrag ist eine Fundgrube für diejenigen, die dem Denken Agambens und seiner Entwicklung große Bedeutung beimessen. Strecker führt die philosophische Paulusdeutung Agambens so nahe an die neutestamentliche Erschließung des Denkens des Apostels heran, dass auf besonders eindringliche Weise die Fragen thematisiert sind, um die es Paulus, dem Christentum und der universalen Menschheit aus Sicht der philosophischen Paulusdeutungen geht und gehen muss: πίστις als performativum fidei und als Gestalt der »identitätslosen Singularität«. Diese ist allerdings weder bei Agamben »leer« noch beruht sie bei Paulus auf dem »do ut des«, wie Strecker in einem kommunitaristischen Rückfall hinter seine eigenen Einsichten meint einwenden zu müssen. Sie beinhaltet vielmehr das Versprechen und das Bekenntnis, dass der in Guantanamo und im digitalen Kontrollsystem der NSA als frei verfügbar definierte Mensch das Thema jeder Theologie ist, die diesen Namen verdient.
Der Sammelband ist durch eine mehrfache Heterogenität geprägt. Der Umfang der Beiträge liegt zwischen acht und 72 Seiten. Das Gewicht der behandelten philosophischen Entwürfe und die Tiefe ihrer Darstellungen schwanken erheblich. Dennoch: Den Herausgebern sei für die Bereitschaft gedankt, in ein Diskussionsfeld vorzustoßen, auf dem sich exegetische Wissenschaft und einige Formen philosophischen Diskurses treffen könnten – wie da­mals in Marburg, als sich Heidegger genötigt fühlte »zu Bultmann hinaufzugehen«.