Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2014

Spalte:

1018–1019

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Nisula, Timo

Titel/Untertitel:

Augustine and the Functions of Concupis-cence.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2012. 420 S. = Supplements to Vigiliae Christianae, 116. Geb. EUR 163,00. ISBN 978-90-04-23168-9.

Rezensent:

Simon Peng-Keller

Die Rede von der concupiscencia, der bösen Begierde, tritt im umfangreichen Werk Augustins in unterschiedlichen Zusammenhängen und mit wechselnden Akzentsetzungen auf. Die theologische Dissertationsschrift von Timo Nisula untersucht diese differierenden Gebrauchsweisen im Hinblick auf bestimmte Diskussionskontexte und die zum Teil auffälligen Entwicklungen im Denken Augustins. Wenn auch die Rede von »Funktionen der Konkupiszenz« eine nicht besonders glückliche terminologische Festlegung darstellt, gibt die Orientierung an vier solcher »Funktionen« N.s historischer und systematischer Studie eine erfreulich übersichtliche und konzise Struktur. Um sich in den Weiten des augustinischen Werks nicht zu verlieren, konzentriert sich N. an repräsentativen Texten, wobei er sowohl frühe als auch späte Werke berücksichtigt und in beeindruckender Genauigkeit analysiert.
Nach einem der Semantik der Begierde (libido, cupiditas, concupiscentia) gewidmeten Kapitel entfaltet N. in vier Hauptkapiteln die von ihm unterschiedenen Funktionen: 1. Konkupiszenz als Sündenstrafe, die den primären Ungehorsam Adams und Evas im sekundären Ungehorsam des Fleisches gegenüber dem Geist abbildet; 2. Konkupiszenz als Wurzel und Matrix aller sündhafter Handlungen; 3. Konkupiszenz als spezifischer Affekt, und schließlich 4. Konkupiszenz als persistierendes, wenn auch domestiziertes Übel im christlichen Leben.
Bezüglich der strittigen Frage nach dem manichäischen Erbe in Augustins Denken weist N. darauf hin, dass dieser das böse Begehren durchgängig als parasitäres und privatives beschreibt, als Verkehrung des Guten, und sich damit konsequent von manichäischen Vorstellungen fernhält. In A. Fokussierung und Exemplifizierung der Konkupiszenz gibt es jedoch, so kann aufgezeigt werden, deutliche und werkgenetisch nicht völlig erklärbare Verschiebungen: Das pluralistische Modell der triplex cupiditas, das etwa in den Bekenntnissen vorherrscht, tritt im Spätwerk zugunsten einer alleinigen Konzentration auf die (ungeordnete) sexuelle Begierde zurück. Sie wird als Inbegriff und zentrale Manifestationsform aller Konkupiszenz von Augustin in dem Maße herausgestellt, wie seine Gegner die theologische Legitimität einer solchen Privilegierung bestreiten.
Besonders intrikat ist Augustins antipelagianische Interpretation von Röm 7 im Hinblick auf das Fortleben der Konkupiszenz im Leben der Getauften. Denn während die Identifikation des zerrissenen Ich von Röm 7 mit dem Selbst des Getauften Augustin dazu bewegt, das christliche Leben als äußerst spannungsreich zu be­schreiben, führt seine Betonung der Taufe und ihrer Heilswirksamkeit gleichzeitig dazu, dass sich die Konkupiszenz von einer gefährlichen Gegenmacht zu einer spirituell durchaus nützlichen Sparring-Partnerin wandelt, die die Getauften an ihre bleibende Angewiesenheit auf Gottes Kraft erinnert. In N.s eigenen Worten: »As a result, concupiscentia begins to look more like a tamed beast, introduced in chains into the inner courts of a Christian heart, instead of being a raging force of nature outside of the citadel of virtue.« (351)
Gegenläufig zu allen Versuchen, Augustins Konkupiszenzlehre von seinen autobiographisch festgehaltenen Erfahrungen her und auf spätere konfessionelle Positionen hin zu lesen, verschreibt sich N.s umfassende und gut lesbare Studie einer sorgfältigen und sachlich überzeugenden werkimmanenten Interpretation. Dass die ausbalancierte und Ungereimtheiten nicht ausblendende Darstellung dennoch ein ökumenisches Anliegen verfolgt, lässt sich zumindest vermuten. Die Unterscheidung verschiedener Funktionen soll jedenfalls erklärtermaßen auch dazu dienen, in konfessionsspezifischen Rückgriffen auf Augustin eine einseitige Lektüre zu vermeiden (359).