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Ausgabe:

September/2014

Spalte:

990–991

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Grohmann, Marianne, u. Ursula Ragacs[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religion übersetzen. Übersetzung und Textrezeption als Transformationsphänomene von Religion.

Verlag:

Göttingen: Vienna University Press bei V & R unipress 2012. 249 S. m. 3 Abb. = Religion and Transformation in Contemporary European Society, 2. Geb. EUR 44,99. ISBN 978-3-8471-0036-2.

Rezensent:

Martin Radermacher

Dieser Sammelband hat das Ziel, die Rezeptions- und Übersetzungsgeschichte der grundlegenden Schriften von Judentum, Christentum und Islam anhand von Textbeispielen zu erforschen und diese in Bezug zu gesellschaftlichen und religiösen Transformationsprozessen zu setzen. Er entstand im Kontext der an der Universität Wien angesiedelten Forschungsplattform »Religion and Transformation in Contemporary European Society«, die un­tersucht, welche Rolle Religionen – hier Judentum, Christentum und Islam – in gesellschaftlichen Transformationsprozessen spielen und wie diese Prozesse sich umgekehrt auf Religionen auswirken. Die Plattformgruppe »Rezeption religiöser Texte«, deren Interesse sich auf die hermeneutischen Fragen im Hintergrund solcher Transformationsprozesse richtet, hat im Mai 2011 einen Workshop mit dem Titel »Religion übersetzen/Translating Religion: Übersetzung und Textrezeption als Phänomene der Inkulturation und Transformation von Religion« veranstaltet, dessen Ergebnisse nun im besprochenen Band vorliegen.
Die Kapitel sind grob sortiert nach ihrer Herkunftstradition, beginnend beim Judentum und endend beim Islam, wobei inter-religiöse Verflechtungen der Rezeptions- und Übersetzungsgeschichten immer wieder mitbedacht werden. Die behandelten Themen reichen dabei von jüdischen und christlichen Transformationen der Hebräischen Bibel (Marianne Grohmann) über die christologische Auslegung von Jes 7 (Agnethe Siquans) und Soma Morgensterns Übersetzung von Psalm 8,3 (Gerhard Langer) bis zur Rezeption der Paulusbriefe im 1. Clemensbrief (Wilhelm Pratscher) und der Qualität einer Rezitationspause im Koranvers Q 3:7 (Orhan Elmaz). Der Band deckt somit ein breites Spektrum an für Rezep-tions- und Transformationsprozesse relevanten Themen ab, von denen einige hier kurz Erwähnung finden sollen.
Gerhard Langer interpretiert Soma Morgenstern als modernen Midrasch und Vertreter der Begegnung zwischen Judentum und Christentum. Am Beispiel von Ps 8,3 vergleicht Langer die rabbinische Überlieferung mit der deutschsprachigen jüdischen Literatur von Soma Morgenstern. Während die rabbinische Interpretation den Psalm so liest, dass die Kinder die Last der Eltern tragen, nämlich letztlich für die Einhaltung oder Nichteinhaltung der Tora bürgen, wird bei Morgenstein diese Bürgschaft »zur klagenden Anfrage an den Boten Gottes« und das »Leiden [die Shoah] der schuldlosen Kinder als Folge des unverzeihlichen Verbrechens der Mörder zur kritischen Bewährungsprobe für Gott selbst« (103). Langers Analyse verdeutlicht, wie stark der Kontext die Übersetzung von Bibelversen prägt. Dies kann, so Langer, so weit gehen, dass »verschiedene Übersetzungen ein und desselben Verses in den unterschiedlichen Rezeptionsliteraturen notwendig sind« (107) – wobei jede Übersetzung argumentativ zu begründen sei.
Christiane Nord thematisiert in ihrem Beitrag auf translationswissenschaftlicher Basis hermeneutische und methodische Probleme im Zusammenhang mit einer Übersetzung des Neuen Testaments, die sie 1999 zusammen mit Klaus Berger vorlegte (DNT 1999). Sie will dabei die ideologischen Entscheidungen im Hintergrund verschiedener Bibelübersetzungen, die oft im Unklaren bleiben, problematisieren und offenlegen. Anhand der Lasswell-Formel (Wer übersetzt für wen und zu welchem Zweck was und wie?) geht sie darauf ein, wie und warum sich ihre Übersetzung von anderen Übersetzungen unterscheidet. Dabei gerät ihr Beitrag von Stil und Argumentationsweise her mitunter zu einer Verteidigung der eigenen Übersetzungsarbeit gegenüber Kritikern und die translationstheoretischen Aspekte geraten etwas ins Hintertreffen. Wichtiges Ergebnis ihres Beitrags ist aber die für alle Übersetzungsprozesse zentrale Aussage, dass »nicht nur der theologische Standpunkt oder die Skopossetzung und die Übersetzungsstrategien ideologisch beeinflusst sind, sondern dass bereits die Übersetzenden selbst ein ideologischer Faktor sind« (162).
Markus Öhler befasst sich in seinem Beitrag mit einer besonderen Form der Übersetzung, nämlich der vom geschriebenen Wort in bibliodramatisches Spiel. Er schöpft dabei aus der eigenen Bibliodrama-Arbeit mit Studierenden der Theologie. Dabei tritt die Übersetzungsproblematik an zwei Stellen auf: Einerseits arbeiten die Spielenden nicht mit dem ›Text an sich‹, sondern bereits mit einer Exegese. Andererseits übersetzen die Spielenden den Text mit Hilfe ihrer Körper in Handeln. »Bibliodrama ist die Über-Setzung einer Übersetzung« (171). Da das bibliodramatische Arbeiten immer »leiblich erfahrene Gegenwart« ist und individuelle Bewusstmachung über den eigenen Glauben beinhaltet, schließt es eine sehr persönliche Dimension von Religiosität und damit auch eine persönliche Form der Übersetzungsarbeit mit ein. Öhlers Beitrag fällt insofern aus der Rolle, als hier die nicht-textlichen Dimensionen der Übersetzung thematisiert werden – ein Forschungsfeld, das sicher noch Potential für weitere Forschungen bietet.
Rüdiger Lohlker schließlich greift ein »neues« Medium auf, wenn er sich mit der Präsenz von Hadith-Texten im Internet befasst. Er geht dabei davon aus, dass neue Medien wie das Internet religiöse Gehalte nicht nur transportieren, sondern auch affizieren. Lohlker greift auf Latours soziologische Akteur-Netzwerk-Theorie zurück, um auf die Agency technischer Objekte hinzuweisen, und analysiert in diesem Rahmen, wie die technischen Rahmenbedingungen von YouTube und Twitter die Präsentation von Hadithen ermöglichen und zugleich beschränken. Es geht auch hier um eine doppelte Übersetzungsbewegung: Zum einen werden die Medien der Schriftlichkeit und Mündlichkeit in neue, nämlich digitale Formen übersetzt, zum anderen wird das Arabische als die zentrale Sprache der Hadithe von anderen Sprachen abgelöst, die teilweise sogar neue Terminologien einführen.
Die Beiträge des Bandes sind im Hinblick auf die gemeinsame Fragestellung gut ausgewählt und angeordnet – die übergeordnete Fragestellung von Übersetzung, Rezeption und Transformation zieht sich wie ein roter Faden durch die verschiedenen Kapitel. Nicht nur bei den hier kurz angesprochenen Beiträgen des Sammelbandes fällt dabei positiv auf, dass die Autoren konkret am Material arbeiten und dabei detaillierte Analysen auch auf knappem Raum nicht scheuen. Dies verleiht dem Band insgesamt Überzeugungskraft und Anschaulichkeit. Auf der anderen Seite liegt im Fokus auf die Beispiele und genauen Textanalysen auch das ein-zige Manko des Bandes: So fehlt es an einem systematischen Überblicksartikel, der die Erträge der einzelnen Aufsätze sammelt, vergleicht und im Hinblick auf theoretische Fragen der Rezeption, Hermeneutik und Transformation zusammenträgt.