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Ausgabe:

September/2014

Spalte:

988–989

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Bullivant, Stephen, and Michael Ruse[Eds.]

Titel/Untertitel:

The Oxford Handbook of Atheism.

Verlag:

Oxford u. a.: Oxford University Press 2013. 784 S. = Oxford Handbooks in Religion and Theology. Geb. £ 95,00. ISBN 978-0-19-964465-0.

Rezensent:

Benjamin Dahlke

Angesichts der fortschreitenden Differenzierung und Spezialisierung des fachwissenschaftlichen Diskurses fällt es immer schwerer, den Überblick über die mitunter fein verästelten Debatten samt den unterschiedlichen Positionierungen zu behalten. Das erklärt die besondere Beliebtheit einer bestimmten Gattung akademischer Literatur, nämlich diejenige der companions oder handbooks. Handbücher wollen Orientierung schaffen, systematisieren und offene Fragen, die weiterer Forschung bedürfen, benennen. Genau das leistet das nun vorliegende Oxford Handbook of Atheism.
Die Herausgeber sind Stephen Bullivant, ein katholischer Theologe, der in London lehrt, und der amerikanische Philosoph Mi-chael Ruse. In 46 Einzelbeiträgen wird eine Vielzahl an Aspekten des komplexen Phänomens »Atheismus« behandelt. Wie komplex dieses ist, zeigt sich schon an den unterschiedlichen Definitionen, die sich in der Literatur finden. Mitunter wird »Atheismus« als Bestreitung der Wahrheit einer bestimmten Religion verstanden. In diesem Fall handelt es sich um ein Phänomen, das an einzelne, genau beschreibbare Konstellationen gebunden ist, statt um eine mit grundsätzlichen Argumenten untermauerte Position. Das wäre wohl zu wenig, weil dies wenig mehr als bloße Religionskritik darstellte. Jede analytische Schärfe ginge hingegen verloren, würde allein schon das Fehlen eines expliziten Glaubens an Gott den Ausschlag geben. Religiös unmusikalische Menschen zählten damit nämlich bereits zu den Atheisten. Im Sinne eines Mittelwegs schlagen die Herausgeber deshalb vor, Atheismus als das entweder einfach vorkommende oder aber begründete Fehlen des Glaubens an einen Gott oder mehrere Gottheiten zu definieren ( Bullivant/ Ruse, 22–36). Kaum verwunderlich, erscheint einzelnen Autoren dieser heuristische Begriff als zu weit (105) oder aber zu eng (539), und sie subsumieren unter ihm gar den Agnostizismus (554). Auch daran lässt sich ablesen, wie komplex das Phänomen ist – um es zu verstehen, sind gleichermaßen religionstheoretische und -soziologische, philosophische und ideengeschichtlich-historische Dimensionen zu berücksichtigen.
So werden in einem ersten Teil des Sammelbandes – überschrieben Definitions and Debates (11–135) – nicht nur Definitionen, sondern auch Argumente für oder wider den Atheismus diskutiert. Das betrifft etwa die Frage, ob Gottlosigkeit unweigerlich zu einem unverantwortlichen, weil gottlosen Leben führt. Schon dass ein atheistischer Philosoph wie Peter Singer eine anspruchsvolle Ethik vorgelegt hat, legt das Gegenteil nahe (Erik Wielenberg, 89–103, hier: 100). Atheisten wie Theisten geht es um ein bedeutungsvolles, sinnhaftes Leben (Kimberley Blessing, 104–118).
Eine Frage, die in den Beiträgen immer wieder anklingt, lautet, ob der Atheismus nicht doch ein spezifisch europäisches, zumal mit der Aufklärung verknüpftes Projekt ist. Vor diesem Hintergrund erklärt sich ein zweiter, ausgesprochen instruktiver Teil – History of (Western) Atheism (137–260) –, in welchem die konti-nentale Geistesgeschichte in Bezug auf das Thema chronologisch untersucht wird, beginnend mit den Vorsokratikern, bis hin zu Denkern der Gegenwart wie Richard Dawkins. Wie die Autoren überzeugend herausarbeiten, kam der Atheismus bis zum 18. Jh. allenfalls als ein hypothetisches, abstrakt-theologischen Überlegungen geschuldetes Konstrukt in Betracht, nicht als eine ernsthafte intellektuelle, geschweige denn lebenspraktische Option. Die Ordnung des Kosmos und des Weltenlaufs belegte ja die Existenz Gottes. Salonfähig wurde der Atheismus dann jedoch im vorrevolutionären Frankreich ( Alan Charles Kors, 195–211). In der Folge wurde er in einflussreichen intellektuellen Zirkeln beinahe zu einer Selbstverständlichkeit, wie die im dritten Teil – Worldviews and Systems (261–379) – versammelten Beiträge zeigen. So entstanden im 19. und 20. Jh. der Humanismus, Existenzialismus, Marxismus, die frühe analytische Philosophie und diverse Formen eines jüdisch grundierten Atheismus. Durch die von den Herausgebern zugrundegelegte Definition erklärt sich wohl, weshalb in diesem Teil außerdem Beiträge zum Buddhismus, Jainismus und Hinduismus zu finden sind. Der Verweis auf diese ›Religionen‹ dient offenbar auch dazu, den Atheismus als kein rein westlich-europäisches Phänomen zu deuten. Als ein solches wirkt es allerdings einmal mehr, wenn im darauf folgenden vierten Teil – Atheism and the Natural Sciences (381–448) – der Zusammenhang mit den Na­turwissenschaften thematisiert wird. Entsprechend dem Grundsatz, Wirklichkeit unter ausdrücklichem Absehen von der Gotteshypothese zu beschreiben, also etsi Deus non daretur, stellen seit dem 19. Jh. in Europa und den USA Biologie, Chemie und Physik die von der Naturphilosophie emanzipierten Leitdisziplinen dar. Doch ist der Atheismus nicht allein ein intellektuelles Phänomen, das insbesondere ideengeschichtlich betrachtet werden könnte; er bestimmt vielmehr das alltägliche Leben, etwa die Einschätzung von Gesundheit und Sexualität. Das machen die Beiträge des fünften, eher kulturwissenschaftlichen Teils deutlich (Atheism and the Social Sciences, 449–549). Längst nicht überall, aber doch in vielen Weltgegenden stellt der Atheismus inzwischen ein Massenphänomen dar. In welch hohem Maß, zeigt der sechste Teil, der sowohl Überblicksstatistiken als auch länderspezifische Fallstudien um­fasst (Global Expressions, 551–679): Es sind zwischen 400 und 500 Millionen Menschen, also gut sieben Prozent der Weltbevölkerung (Ariela Keysar/Juhem Navarro-Rivera, 553–586). Wenig ergiebig bleiben demgegenüber die Beiträge des abschließenden Teils zu Literatur, Kunst und Musik (Atheism and the Arts, 681–734).
Aufgrund seiner schieren Materialfülle und der zahlreichen Perspektiven ist das Oxford Handbook of Atheism besonders für Systematische Theologen von Interesse, und das gleichermaßen für Ethiker, Fundamentaltheologen und Dogmatiker. Allerdings ist manches zu vermissen. Es fehlt etwa eine Thematisierung der Gott-ist-tot-Theologie, die Mitte des 20. Jh.s einige Aufmerksamkeit erfahren hat, oder anderer produktiver Reaktionen auf den Atheismus, wie sie beispielsweise Karl Rahner oder Eberhard Jüngel unternommen haben. Wünschenswert wäre außerdem eine Untersuchung der Apologetik des christlichen Glaubens, wie sie sowohl auf katholischer als auch auf evangelischer Seite in Auseinandersetzung mit entsprechenden Anfragen entwickelt worden ist – man denke nur an die neuscholastischen Handbücher. Das sind Themen, die weiterer Forschung bedürfen, zumal sie nicht bloß von theologiegeschichtlichem Interesse sind. Gerade vor dem Hintergrund der weiterhin rege geführten Diskussion um die Frage, ob und inwieweit von einer Wiederkehr der Religion gesprochen werden kann, lohnt die Lektüre des Oxford Handbook of Atheism. Die verschiedenen Beiträge des Sammelbandes erinnern daran, dass – zumindest in den aufgeklärten Industrienationen – immer mehr Menschen faktisch ohne Glauben und Kirche auskommen, abhängig von der Definition vielleicht auch ohne Gott.