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Ausgabe:

Juli/August/2014

Spalte:

948–951

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Oelschlägel, Christian

Titel/Untertitel:

Diakonie und Menschenrechte.Menschenrechtsorientierung als Herausforderung für diakonisches Handeln.

Verlag:

Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2013. 299 S. m. 12 Abb. = Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg, 44. Kart. EUR 23,00. ISBN 978-3-8253-5888-4.

Rezensent:

Arnd Götzelmann

In der Reihe »Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg« ist als Band 44 die Dissertation von Christian Oelschlägel erschienen. Im Vorwort und auf der Einbandrückseite wird die Verbindung des Vf.s mit dem Heidelberger Institut, in dem er von 2004 bis 2011 als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war, und seinen drei letzten Direktoren Theodor Strohm, Heinz Schmidt und Johannes Eurich ebenso deutlich wie seine aktuelle Einbindung in die Diakonie Deutschland, in deren Vorstandsbüro er gegenwärtig als Theologe arbeitet. Nach der Vereinigung der früheren Organisationen Diakonisches Werk der EKD, Brot für die Welt und Evangelischer Entwicklungsdienst zur Diakonie Deutschland – Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung werden die gewichtiger gewordenen Aufgaben der Entwicklungszusammenarbeit die Frage nach der Relevanz der Menschenrechte für die Diakonie verstärken.
Die Themenstellung »Diakonie und Menschenrechte« wird in dem Band sehr grundlegend angegangen, ohne einen zu engen Bezug zur organisierten deutschen Diakonie herzustellen. Um es gleich vorweg zu nehmen: Es handelt sich hier um keine Haus- und Hofschriftstellerei für die Diakonie Deutschland, sondern um ein profundes systematisch durchgearbeitetes Werk gegenwartsrelevanter Theologie, das für deren Dialog mit der Rechtswissenschaft, der philosophischen Ethik und der Sozialarbeitswissenschaft von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist.
Seit den 1970er Jahren lässt sich eine neue, grundsätzliche Be­schäftigung der akademischen Theologie mit den Menschenrechten beobachten, nachdem es zuvor meist nur zur theologischen Auseinandersetzung mit einzelnen Menschenrechten, wie etwa der Religionsfreiheit kam. Jürgen Moltmann war es, der sich in zwei Publikationen anlässlich der Erklärung des Reformierten Weltbundes zu den Menschenrechten schon 1976 mit diesem Thema beschäftigte, gefolgt von dem bedeutsamen Buch Wolfgang Hubers und Heinz Eduard Tödts aus dem Jahr 1977. Bis heute sind die Menschenrechte Thema der Theologie, zu der der Vf. nun einen ersten großen und interdisziplinär angelegten Beitrag von Seiten der Diakoniewissenschaft leistet.
Zentral befasst sich der Vf. mit der »Frage nach einer weiteren Klärung des Verhältnisses von christlicher Auseinandersetzung mit den Menschenrechten und anderen Zugängen zur Menschenrechtsthematik«, sie könne jedoch »nicht nur aus theologischer Perspektive« gestellt werden, sondern sei »im Dialog mit anderen Disziplinen« (11) zu bearbeiten. Gleich zu Beginn weist der Vf. darauf hin, dass eine theologische Rezeption die Menschenrechte weder auf einen exklusiv religiösen Ursprung zurückführen könne noch sie durch christliche Werte einseitig vereinnahmen dürfe. Schließlich sind die Menschenrechte historisch auch oftmals gegen die christlichen Kirchen erkämpft worden. Die katholische Theologie und kirchliche Lehre habe die Menschenrechte lange Zeit abgelehnt, die evangelische Theologie habe Distanz zu ihnen gehalten. Erst nach einem komplizierten christlichen Lernprozess seien die Menschenrechte gegen Ende des von Gewalt gezeichneten 20. Jh.s zum locus theologicus, ja, »zum zentralen Topos […] der theologischen Wissenschaft« (Martin Heckel) geworden (12). Der Vf. geht davon aus, dass eine »prinzipielle Offenheit« (13) für neue Lernerfahrungen mit den Menschenrechten die Voraussetzung für ein ernsthaftes Menschenrechtsgespräch mit anderen Religionen und Weltanschauungen ist. Diese Offenheit setzt er selbst in der Auseinandersetzung mit anderen Wissenschaftsdisziplinen um. Dazu gibt er zunächst einen kurzen Überblick über die Menschenrechte als Gegenstand der Forschung in den verschiedenen Disziplinen, die er für den Dialog mit der Theologie in dieser Frage für relevant erachtet: die Philosophie und die Wissenschaft der Sozialen Arbeit als Nachbarwissenschaft der Diakoniewissenschaft. Der Vf. unternimmt es, »die im Bereich der Sozialen Arbeit bereits vorfindliche Menschenrechtsorientierung aufzugreifen und auf ihre Tragfähigkeit für diakonisches Handeln zu befragen« (18). Auch wenn das christliche Hilfehandeln meist nicht unterscheidbar sei vom Handeln von Nichtchristen, so sieht der Vf. die »übergreifende theologisch-spirituelle Dimension« (18) menschenrechtlicher Orientierung neben der individuellen und der gesellschaftlich-politischen als »Spezifikum menschenrechtsorientierten diakonischen Handelns« (18) an. Eben sie findet er in den drei grundlegenden biblischen Texten zur Diakonie: Nächstenliebegebot, Samaritergleichnis und Weltgerichtsrede. Die drei Dimensionen dienen auch der Systematisierung seines Buches: Nach einem Grundlagenteil (I) werden die individuelle (Teil II) und die politische Ebene (Teil III) jeweils interdisziplinär thematisiert, die spirituelle Dimension geht in die betreffenden theologischen Unterteile ein. Einige »Problemanzeige(n)« sollen dabei bearbeitet werden: Die Wahrnehmung und Inhalte der Menschenrechte seien klärungsbedürftig, der Doppelcharakter der Menschenrechte als moralische Überzeugung und positives durchsetzbares Recht sei auszutarieren, die Begründungsfragen der Menschenrechte seien strittig, die Konsequenzen für ein menschenrechtsorientiertes diakonisches Handeln seien zu entfalten.
Mit einem empirischen Zugang »zur Situation der Menschenrechte in Deutschland« (Kapitel 1) versucht der Vf., die Wahrnehmung der Menschenrechte in der Bevölkerung anhand von zwei repräsentativen Befragungen zu erkennen und die Lage aus den verschiedenen deutschen Staaten- und Schattenberichten zur Entwicklung der Menschenrechte in Deutschland zu erheben. In Kapitel 2 werden theoretische Grundfragen zur Definition der Menschenrechte und zu aktuellen Problemfeldern im Menschenrechtsdiskurs erörtert. Hier geht es etwa um den Zusammenhang von Menschenrechten und Menschenwürde sowie um die Notwen-digkeit der Legitimation von Menschenrechten. Die innere Be­gründung der Menschenrechte aus der UNO-Charta selbst wird im 3. Kapitel bearbeitet. Das theologische Grundsatzkapitel (Kapitel 4) zur christlichen Begründung der Menschenrechte schließt den ersten Hauptteil ab. Neben den Argumenten für und gegen eine theologische Begründung wird die protestantische Rezeption der Menschenrechte dargestellt.
Der zweite Hauptteil befasst sich in drei Kapitel mit den Menschenrechten in individueller Perspektive. Im Philosophie-Kapitel (5.) geht der Vf. den naturrechtlichen Begründungsansätzen und dem Fähigkeitenansatz von Martha C. Nussbaum kritisch nach. Im 6. Kapitel wird im Anschluss an Silvia Staub-Bernasconi die historische Verbindung von Menschenrechten und Sozialer Arbeit, die Einbettung der Menschenrechte in die internationale berufsständische Ethik und Lehre Sozialer Arbeit sowie das Konzept der »Sozialen Arbeit als Menschenrechtsprofession« dargestellt. Im theologischen 7. Kapitel wird das gängige Konstrukt der Gottebenbildlichkeit als Grundlage der Menschenwürde einer gründlichen Revision unterzogen. Weitere theologische Bezüge aus der Christologie, der Soteriologie und der Harmatiologie sowie der biblischen Option für die Schwachen werden für die Menschenrechtsdebatte fruchtbar gemacht.
»Menschenrechte in gesellschaftlicher Perspektive« werden im dritten Hauptteil in einem philosophischen, einem juristischen, einem theologischen und einem diakoniewissenschaftlichen Zu­gang verhandelt. Mit zwei sozialphilosophischen Modellen, die breite Rezeption gefunden haben, setzt sich der Vf. kritisch im 8. Kapitel auseinander: Otfried Höffes Modell des Tranzendentalen Tauschs und Stefan Gosepaths Modell der Gleichverteilung. U. a. wird der Tauschbegriff Höffes mit Franz Hinkelammer kapitalismuskritisch in Frage gestellt: Menschenrechte seien nicht Tauschprodukte des Marktes, sondern eher als Marktverzerrungen zu verstehen. Gosepaths Ansatz führe zu einer inflationären Anzahl von Menschenrechten. Das juristische 9. Kapitel fragt zunächst nach der Rechtsnatur der Menschenrechte und der Spannung zwischen moralischen Ansprüchen und positiven Rechten, für die exemplarisch die Entwürfe von Ernst Tugendhat und Jürgen Habermas stehen. Die Adressaten der Menschenrechte und die Arten der Verpflichtung werden rechtstheoretisch ebenso thematisiert wie die Frage der Unteilbarkeit der Menschenrechte. Spannend ist auch das theologische Kapitel 10 geschrieben.
Hier wird schon in der Überschrift eine gewisse Innovation eingeführt, indem es um »soziale Menschenrechte« gehen soll, d. h. hier kommen stärker die sogenannte zweite (wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte) und dritte Generation (Solidaritäts- und Gruppenrechte auf Entwicklung, Frieden und saubere Umwelt) der Menschenrechte in den Blick. Als biblische Basis wird die Theologie der Bundesschlüsse, das Sozialrecht der Tora, die Sozialkritik der Propheten, verschiedene soteriologische Theologumena und die Option für die Schwachen aus dem Neuen Testament herangezogen und in Verbindung zu den Menschen- und Sozialrechten gebracht. Im 11. Kapitel wird versucht, die theologischen Erkenntnisse bezüglich der Menschenrechte zu bündeln und auf die individuelle, gesellschaftliche und spirituelle Dimension zu beziehen. Da es keine neutrale Begründung der Menschenrechte geben könne (252), sei eine Verständigung über die Begründungsfragen in prinzipieller Offenheit nötig. Dazu können verschiedene Disziplinen und Weltanschauungen ihre Beiträge leisten. Die christlich-theologische Perspektive könne etwa zur Gleichheitsidee der Menschen beisteuern, dass sie sich aus der Menschwerdung Gottes ableiten lässt: »Wenn Gott sich dem Menschen gleichmacht, folgt daraus auch eine Gleichheit der Menschen untereinander.« (253) Die Gleichheit werde auch theologisch durch die Freiheit ergänzt. Die soziale Di­mension werde theologisch durch das Verständnis des Menschen als relationales, auf Gott und den Nächsten bezogenes We­sen befruchtet. Nötig sei in dieser Dimension auch die kritische Reflexion der eigenen Geschichte des Christentums und der Kirchen. Schließlich ließen sich auch bleibende Differenzen zwischen christlichem Glauben und Menschenrechtsdenken ausmachen. Der diakoniewissenschaftliche Ertrag der theologisch-interdisziplinären Neuentdeckung der Menschenrechte wird am Ende des Buches am Beispiel des Handlungsfeldes der kirchlich-diakonischen Entwicklungsarbeit anschaulich gemacht und exemplarisch für andere diakonische Handlungsfelder aufgezeigt.
Der Band bietet eine anspruchsvolle und vieldimensionale Zu­sammenschau der philosophischen, juristischen, ethischen und theologischen Zugänge zu den Menschenrechten. Wer über den Zusammenhang derselben zur theologischen Debatte etwas lernen will, sollte dieses Buch lesen. Die Ausführungen zur Bedeutung der Menschenrechte für diakonisches Handeln sind in ihrem grundlegenden systematisch-theologischen Zugang von großer Bedeutung, in ihren praktischen Konsequenzen jedoch nur ansatzweise ausbuchstabiert. Vom exemplarischen Handlungsfeld der Entwicklungsarbeit aus können aber sinnvolle Transfers auf andere diakonische Handlungsfelder geleistet werden.