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Ausgabe:

Juli/August/2014

Spalte:

944–946

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Mantei, Simone, Sommer, Regina, u. Ulrike Wagner-Rau [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Geschlechterverhältnisse und Pfarrberuf im Wandel. Irritationen, Analysen und Forschungsperspektiven.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2013. 328. m. Abb. = Praktische Theologie heute, 128. Kart. EUR 33,90. ISBN 978-3-17-022957-0.

Rezensent:

Dieter Becker

Kirchen und Pfarrberufe durchlaufen seit über 30 Jahren grundlegende Wandlungsprozesse. Einer davon ist die (formal-rechtliche) Gleichstellung der Pfarrerin mit dem Pfarrer. Unter Fragestellungen der biologischen (engl. sex), der sozialen bzw. psychologischen Ge­schlechtszuweisungen (engl. gender) als auch deren Rollen-, Verhaltens-, Erwartungs- oder Status-Konstruktionen (engl. gender role; auch: doing gender) werden im Buch diese Eruptionen des Pfarrberufs untersucht. Dass dual-kategoriale Einordnungen (wie: sex <=> gender) keinesfalls als eindeutig betrachtet werden können, darauf verweist – zu Recht – nicht nur die Philosophin Judith Butler. Die Welt(en) – folglich auch die Kirchenwelt(en), der Pfarrberuf (die Pfarrberufe) – stellen sich aktuell nicht lediglich als Pluralität von Vielseitigkeit dar, sondern sind derart zerfasert und diversifiziert, dass singuläre (Pfarrherr), dualistische (z. B. Pfarrer versus Pfarrerin, Land-/Stadtpfarramt) oder funktional differenzierte Beschreibungsmodelle (Funktionsämter, Gemeindeamt, funktional-pastorale Aufgaben) unvollständig und unangemessen er­scheinen.
Das von Mantei, Sommer und Wagner-Rau herausgegebene Buch beschäftigt sich mit der Frage von Gender im Pfarrberuf; vornehmlich weiblicher Konnotation. Die Verdrängung der Frau aus dem ordinierten Amt war unzweifelhaft eine Ungerechtigkeit. Die Phasen der formal-juristischen Gleichstellung (1969–1998), der Etablierung feministischer Theologie zunächst als kämpferischer Legitimationsanspruch (1980er Jahre), sodann als theologische Me­thodologie (1990er Jahre) werden – recht unterschiedlich – als Ausgangspunkte für die Untersuchung aktueller (Gender-)Aspekte im Buch herangezogen. Dabei scheint aber (fast) allen bewusst, dass sich im 21. Jh. aufgrund der divergierenden (Kirchen-)Situation neue Gender-Fragestellungen aufdrängen. Diesen gehen die 19 Beiträge im Buch nach. Einerseits sind dabei empirische oder hermeneutische Analysen sauber durchgeführt; mit brillanten Konklusionen. Andererseits werden trotz differenter Ausgangslage weiterh in »alte« Rollenmuster heraus- bzw. hineininterpretiert. Oder zwei bis drei Beispiele (z. B. bei Pfarrehepaaren) begründen alte dualistische Metaphern. Beim Lesen der Artikel des Buches lässt sich es somit nicht immer in einer objektiven Hochsitzposition verweilen; gerade weil – durch den »Verlust des Metaphysischen« – auch das Objektive als solches an seine Grenze kommt. Diese Zwiespältigkeit in der Betrachtung der Pfarrpersonen – egal wie man/ frau diese konnotiert wissen will – zeigt sich in den Beiträgen. Und das macht das Buch so interessant!
Die 16 Frauen und drei Männer ringen um (berufs-)soziologische, empirische, praktisch-theologische Aspekte. Insgesamt be­trachtet kann das Buch als ein Abbild der im Eingang beschriebenen Zerfaserungs- bzw. Heterogenisierungstendenzen erfasst werden. Dabei ist der Artikelband in vielerlei Hinsicht hilfreich. Mantei legt im ersten Beitrag des Buches überzeugend die angeführte strukturelle Diversität jenseits dualistischer Denkmodelle und das sich pluralisierende Identitätsverständnis im Pfarrberuf dar. Sie und andere im Buch rufen zu Recht dazu auf, neue Modelle im Pfarrberuf zu etablieren, die zwar genderspezifische Themen beinhalten, aber diese nicht mehr als Alleinstellungsmerkmal aufweisen können.
Der Band bietet weiterhin in Abschnitt I (Gender und Pfarrberuf heute) bzw. Abschnitt II (Empirische Studien) generelle und spezifische Überblicke der historischen bzw. jüngsten Entwicklungen der Gleichstellung von Frauen als Pfarrpersonen (Sammet, Dammayr: generell; Menzel: Kirche in der DDR und seit 1990; Hildenbrand: von Pfarrfrau zur Pfarrerin bzw. in stellenteilenden Pfarrehepaaren; Nesbitt bzw. Niemela: Entwicklung der Frauenordination und Genderthemen in den USA bzw. Finnland). Die Artikel stellen zudem empirisches Material vor und deuten dieses hinsichtlich der Pfarrberufsentwicklungen (Sammet: Berufsrollen und Gender; Wiedekind: Studierende und Berufsanfänger – höchst in­teressant, weil sich Berufsanfänger kaum noch rein genderspezifisch verstehen; Offenberger: stellenteilende Paare im Pfarrberuf; Söderblom: Gleichgeschlechtliche Lebensform im Pfarramt). Untersucht werden im Abschnitt III pastorale Rollenbilder im Film (Kirsner) und Literatur (Littberger, Klaus Eulenberger) unter ästhetischen Aspekten. Personalstrategische Analysen und Ausblicke für Aus- bzw. Fortbildung (Sommer – z. B. mit der Forderung nach Auflösung starrer pastoraler Ausbildungsphasen), in Bezug auf Frauen in kirchlichen Führungsämtern bzw. für solche (Bischöfin Junkermann – sehr lesenswert) oder hinsichtlich der formalen Gleichstellungsentwicklung der Frau im Pfarramt (Bergmann) werden im Ab­schnitt IV als tragfähige Perspektiven geboten.
Abschließend gibt Gerald Kretzschmar interessante Impulse zur Erarbeitung einer geschlechterbewussten Pastoraltheologie der Vielfalt und Ulrike Wagner-Rau eröffnet – jenseits monokausaler Erklärungsmodelle – Forschungsperspektiven (vom Pfarramt zum Pfarrberuf, Teildienste, Identität und Rolle, De-/Professionalisierung, Qualität und Ansehen im Pfarrberuf u. a.).
Das Buch greift ein bewegtes und bewegendes Kapitel jüngster Kirchenveränderung auf. Dabei sind sowohl die Autoren als auch die Leser entweder durch eigene (Berufs-)Erfahrungen oder einfach gen(d)erell in die Frage eingebunden, wo und – vor allem – wie heute (pastorales) Leben seinen »Mann« und/oder seine »Frau« stehen muss. Es wird beim Lesen deutlich, dass eine formal-juristische Gleichstellung niemals nahtlos in eine faktische oder praktische Gleichheit mündet. Vielmehr kommt es zu neuen Aspekten wie z.B. den im Buch mehrfach ausgeführten Ungleichheiten bei pas­toralen Voll- und Teildienstverhältnissen (Männer zu über 80 % in Vollzeit; Frauen über 65 % Teildienst) oder den wenigen Frauen in kirchlichen Führungsämtern (Stichwort: glass ceiling – »gläserne Decke«, die den Aufstieg von Frauen in Hierarchien hemmen). Ungleichheit muss aber nicht automatisch Ungerechtigkeit be­deuten. Möglicherweise kommt aufgrund (gender-)spezifischer Nutzenaspekte ein neues pastorales Selbstverständnis zum Tragen: Wie kann ich als Person (männlich, weiblich, hetero, homo, bi, konservativ, liberal …) mein Lebensmodell mit dem Beruf »Pfarrer/in« so in Einklang bringen, dass die eigene Persönlichkeitsentfaltung auch jenseits von Rollenerwartungen an die Amtstracht ausreichend (privaten) Raum erhält? Mit dieser Frage verknüpfen sich somit alle – auch im Buch untersuchten – Wandlungen im Beruf »Pfarrer/Pfarrerin« in Bezug auf Partnerschafts(ver)suche und deren Miss­lingen (im Pfarrhaus?), (kirchliche) Karrierewünsche, Eigenmotivationen sowie Fremd-Demotivationen (z. B. durch Öko­nomisierung des Pfarrberufs) und Burnouts, oder auch auf spezifische Entwicklungen (z. B.: steigende Anzahl weiblichen Single-daseins im Pfarrhaus, sexuelle Freizügigkeit, [keine] Elternschaft, körperliche/psychische Gebrechlichkeit, altersbedingte Be­rufsunlust). Diversität und Heterogenität sind in den Pfarrberufen und bei den Pfarrpersonen angekommen.
Insofern erscheint der Artikelband als Brücke von bisher idealisierten Berufsbildern in die pastorale Zukunft; gerade jenseits von Genderfragen. Die auch in den Beiträgen attestierte Diversität kann als dynamischer Motor für Kirche von morgen begriffen und darf nicht als Gefahr für Tradition oder Identität missverstanden werden. Letztlich liegt diesem Brückenweg an das zukünftige Ufer nicht weniger zugrunde als die Evangeliumserkenntnis: »Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.« (Gal 3,28) – Das machen die Beiträge in dem Buch auf recht unterschiedliche Weise deutlich.
Persönlicher Hinweis an meine Geschlechtsgenossen: Das Buch mit dem Artikel Männlichkeitskonstruktionen im Pfarramt. Auf der Metaebene verheddert von David Plüss (53–71; sehr gut) zu beginnen, eröffnet einen Einstieg in die Genderthemen gerade im Blick auf die eigenen Konstrukte ge- und erlebter Pfarr-Männlichkeit.